Hast du Lust auf ein Abenteuer?
Das fragte ich meine Radbegleitung Steffi, als wir den VP8 Falkenseer Chaussee gegen 11:15 Uhr am Samstagmittag gemeinsam verließen. Dass überhaupt noch die Möglichkeit bestand auf ein Abenteuer, hatte sich in den morgendlichen Stunden keineswegs abgezeichnet. Nach einer schlaflosen Nacht mit Fieber und gar keiner Nahrungsaufnahme am Morgen schleppte ich mich zum Startbereich in Berlin Pankow. Die zugegeben nicht sehr belastbare Idee war, erstmal locker anzulaufen und vielleicht bis Km 47 kommen, wo die Radbegleitungen einsteigen würden.
Das Training der Vorwochen war zwar etwas besser als noch im Frühjahr, aber von einer tauglichen Vorbereitung auf 100 Meilen konnte nicht die Rede sein. Längster Lauf: 30 Km. Damit käme man auf dem Mauerweg immerhin bis zum Ruderclub Oberhavel. Und mit diesem Wissen trabten wir zusammen mit 550 anderen Verrückten um 6:00 Uhr auf der Werner-Kluge-Sportanlage los. “Das wird ein langer Tag, das wird ein schwerer Tag.” Die Worte des Moderators blieben mir im Ohr.
Die ersten 20 Km sollten eigentlich zum Einrollen sein, aber ich hatte schon so meine Probleme mit der Atmung und der Körpertemperatur. Es begann tatsächlich zu regnen(!) und trotzdem schwitzte ich aus allen Poren. Marek machte einen lockeren Eindruck und so hielt unsere gemeinsame Taktik, im 6er Schnitt zu traben und uns gut zu verpflegen bis etwa Hennigsdorf. Meine Beine waren schon so schwer, dass ich Marek mit der Ankündigung losschickte, dass ich spätestens in Falkensee rausgehen würde. “Leg dich ins Bett” rief er mir zu und weg war er. Immerhin hielt ich ihn nun nicht mehr auf.
Am Ruderclub haute ich mir die erste Cola rein und aß alles, was ich runterbekommen konnte, dazu zwei Gels. Das wirkte. Ich fühlte mich besser und rollte wieder los. 17 Km bis Falkensee, das schaffe ich irgendwie. Komischerweise machte mir die Mittagssonne gar nicht so zu schaffen. Bis zur Marathonmarke trabte ich 5 Km mit Jan vom ASV, was mir auch Ablenkung verschaffte. Und dann war da schon der VP Schönwalde, vor dem es etwas trailig wird. Max vom ASV erwischte mich auf der Bank beim Händewaschen. Noch 5 Km bis Falkensee!
Die zogen sich ordentlich. Die Sonne war nun unerbittlich und meine Gehpausen häuften sich. Ich haute mir immer vor den VP ein Gel rein, um dann nur noch Salz/Salzstangen und was kleines Festes zu mir zu nehmen. Und natürlich die Flaschen aufzufüllen. Falkensee erreichte ich schließlich um 11:10 Uhr.
Was für eine Erleichterung, Steffi zu sehen und endlich diesen Trinkrucksack abzulegen. Ich war wild entschlossen weiterzulaufen. Wir nahmen uns die Zeit für unsere Abstimmung und für die Verpflegung. Und dann rollte das Dreamteam los Richtung Staaken. Ich hatte wieder Mut gefasst und fühlte mich gut. Der nächste Meilenstein ist Sacrow bei Km 67. Wir beschlossen, dass Steffi die Heerstraße runter zum Eiswürfelholen fahren soll, was sich als lebensrettende Maßnahme erwies. Ich packte die Eiswürfel in das Rabbit-Halstuch und kühlte meinen Nacken. Auch für die Getränke am VP wirkten die Eiswürfel Wunder, denn leider waren ausnahmslos alle Getränke lauwarm.
Der VP bei Familie Pagel (Km 61) ist immer ein Highlight. Sie haben einfach alles. Einen Moderator, der jeden Läufer begrüßt, einen Gartenschlauch zum Kühlen, Kartoffeln, Brühe, ich wollte mehr essen, als ich konnte. Wir gönnten uns auch hier wieder unsere Minuten, bevor wir uns nach Sacrow aufmachten. Die Passage durch den Wald mit dem kleinen Anstieg ist nervig, aber gut machbar. Auf der Landstraße angekommen, geht es abwärts nach Sacrow und da kann man es richtig rollen lassen. Der erste große Meilenstein war nach 7:45h erreicht. Uffz. Also Shirt wechseln, ein Liter Ginger Ale inhalieren (danke, David!) und auf ging es in den Schlosspark.
Unser Eis war lange geschmolzen und schon auf dem Weg raus aus dem Park merkte ich, dass es zunehmend schwül wurde und mir die Sonne zusetzte. Die 5 Km im Wald liefen noch gut, aber schon in Krampnitz hatte ich den nächsten Hitzekoller. Nur die Mütze nassmachen, das reichte längst nicht mehr. Auf der langen Chaussee Richtung Potsdam schlug ich Alarm – das darf jetzt nicht der Knockout werden. Steffi spottete die nächste Tankstelle und fuhr davon, während ich allein links auf den Uferweg zur Meierei abbog. Ich zog mein Shirt aus, das seit Sacrow schon klitschnassgeschwitzt war. Kurz vor der Meierei erreichte mich Steffi wieder und wir starteten die Operation Cooldown. Nur wie oft würde das heute noch funktionieren?
Bis zur Glienicker Brücke lief es wieder zügig und wir zogen hoch auf die Virchowstraße. Das ist angenehm zu laufen, weil es leicht bergab geht. Hier hatte ich mich drauf gefreut, im Training hatte ich die Strecke in die andere deutlich anstrengendere Richtung gelaufen. Es flutschte gut bis Griebnitzsee. Der VP liegt unten am Wasser und man muss runterlaufen. Zum Glück gab es hier wieder die Dusche. Ich musste weiterhin hart darauf achten, nicht heißzulaufen und genügend zu essen. Die Maurten-Gels vertrug ich bis hierhin blendend. Es war gerade mal etwas mehr als die Hälfte geschafft. Ich freute mich nun auf “meine” Hood – wir bewegten uns Richtung Düppeler Forst auf den Königsweg.
Nach etwa drei Kilometern fiel Steffi auf, dass sie den Rucksack am VP Griebnitzsee hatte stehen lassen. Ärgerlich, aber nichts, was uns jetzt sehr gut eingespieltes Team aus der Ruhe brachte. Ich schnappte mir ein Gel und eine Wasserflasche, während Steffi sich auf den Rückweg machte. In dieser Phase passierte ich wenige Einzelläufer. Immer wieder flogen Staffeln vorbei und sorgten für Abwechslung. Die Schwüle war im Wald nicht so spürbar und bis zur Avus-Querung hatte ich richtig Spaß. Dann wurde es aber auch Zeit für den VP Königsweg und pünktlich davor hatte mich Steffi samt Rucksack wieder eingeholt. Wir bekamen die Info, dass Marek mit Übelkeit zu kämpfen hatte. Er hatte etwa zwischenzeitlich 90 Minuten Vorsprung rausgelaufen. Ich ahnte nichts Gutes.
Der Königsweg hatte nach dem VP ein Ende und wir bogen rechts nach Düppel ein, wo das Kreuz von Karl-Heinz Kube steht. Hier hatte ich so manchen Trainingslauf gestartet oder beendet. Natürlich hielten wir kurz an und inne. Vor vielen Stelen lagen frische Blumen, die angesichts des Gedenkens an den Tag des Mauerbaus niedergelegt wurden. In diesem Moment hat es auch mich wieder ergriffen. Wir sind auf einem Gedenklauf. Wir machen hier heute etwas, was noch vor 35 Jahren eine Utopie schien. Auf dem ehemaligen Todesstreifen laufen. Wir überholten immer mal wieder Einzelläufer, um dann wenig später wieder überholt zu werden. Bei so manchem ging dieses Spielchen 10 Mal, vielleicht auch 15 Mal. Teltow war nicht mehr weit!
Es zog sich noch elendig am Kanal, aber nach etwa 12,5h waren wir in Teltow. Mir ging es verhältnismäßig gut und ich suchte den direkten Weg unter die kalte Dusche. Nick gesellte sich nun zu uns, der fortan penibel auf mein Essen achtete. Die Stimmung war gut. Vielleicht zu gut angesichts dessen, was noch vor uns lag. Ich sage immer, in Teltow beginnt das Rennen. Fast 100 Km waren gelaufen, aber die zweiten 100 Km folgten nun. Im Gegensatz zum Lauf vor 2 Jahren konnten wir aber noch mehr Tageslicht nutzen, denn die Crew rückte um 18:50 Uhr wieder aus der heißen Sporthalle aus.
Zunächst hatte ich eine Laufweste übergeworfen, doch die wurde mir nach wenigen Kilometern schon wieder zu warm. Im 6:30er bis 7er Schnitt rollten wir auf die endlosen Geraden Richtung Lichtenrade. Wirklich Abwechslung kommt hier nicht. Steffi legte Musik auf und wir konnten ein wenig mitsingen. Die “Stimmen im Wind” waren genau der richtige Sound zum Weiterrollen. Und irgendwie stimmte es ja, was Juliane Werding sang: “es fängt alles erst an”. Denn nach Teltow fängt der Mauerweglauf eigentlich erst an.
Meine Crew wurde immer größer: Andi traf kurz vor Lichtenrade auf uns. Er hatte mich vor 2 Jahren begleitet, als ich nach 145 Km das Rennen abgebrochen hatte. Die Stimmung wurde getrübt, als wir die Nachricht vernahmen, dass Marek nicht mehr weiterlaufen wollte. Nach dem VP an der Osdorfer Str. funkten wir dem Team Marek/Britta durch, dass sie auf uns am VP Ninas Eltern warten sollen. Wer hätte das gedacht, wir würden noch auflaufen.
Die letzten beiden Kilometer bis zum VP 18 waren die schnellsten des Rennens. Ich musste nun dringend meine Weste anlegen und die Lampe aufsetzen. Und schon sahen wir das Häufchen Elend in Form von Marek sitzen und leiden. Er hatte sich mehrmals übergeben und machte keinen guten Eindruck. Wir versuchten es mit Energy Gums von Scratch und Salzstangen. Irgendwas musste doch drinbleiben. Nebenbei zerstachen uns die Mücken. Noch 50 Kilometer waren zu absolvieren. Wir hievten Marek hoch und starteten in der großen Gruppe los. Und tatsächlich blieben zumindest die mini-Mahlzeiten im Magen. Vielleicht könnte Marek am nächsten VP mehr essen und trinken. Aber Buckow war noch weit. Steffi nahm diesen Clip auf.
Wir mussten uns erst durch die endlosen Wälder schlagen, ein Singletrail machte die Sache im Dunkeln anspruchsvoll. Dieser Wald, er hörte einfach nicht auf. Aber wir kamen voran. Nicht schnell, aber immer wieder mit Lauf-Passagen. Ich hatte keine Probleme, immer wieder in den Laufschritt zu kommen, auch wenn sich langsam aber sicher die Fußsohlen bemerkbar machten. An den Stützpunkten der Einlagen brannte es schon ordentlich. Marek zog gut mit und in dieser Phase hatte ich berechtigte Hoffnung, dass wir das schon irgendwie schaffen würden. Immerhin ging es jetzt in die Stadt und der VP Buckow war der erste “in der Zivilisation”. Wir versuchten uns hier nicht zu lange aufzuhalten. Ich zwang mich zum essen und Marek nahm zumindest ein paar mehr Gums zu sich. Es blieb zäh.
Bilder gab es nun nicht mehr, auch die Crew war am Limit angekommen und schleppte sich dahin. Verständlich nach so vielen Kilometern. Andi verabschiedete sich für ein paar Stunden zum Volunteering am VP Checkpoint Charlie bis um 01:00 Uhr. Er wollte dann wiederkommen. Ich habe das schon alles nicht mehr zusammenbekommen. Wir schafften es irgendwie bis Rudow. Leider ist ausgerechnet dort der schwächste aller VP. Sage und schreibe zwei Stühle waren aufgestellt und die Cola eklig warm. Marek verweigerte jegliche Nahrung und mir war klar, ohne weitere Energie wird es schnell enden. Um nicht zu frieren, hievte ich ihn hoch und wir stiefelten weiter Richtung Autobahn.
Keine 200 Meter später hatten Steffi und ich Marek und Britta verloren. Nur 5 Minuten später kam der Anruf von Britta, dass Marek sich nochmal übergeben hatte und in den Bus zum U-Bahnhof Rudow gestiegen sei. Das war natürlich keine motivierende Nachricht. Aber ich konnte die Entscheidung sehr gut nachvollziehen. Wir waren nun auf uns allein gestellt. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und lief die Steigung zur Autobahnbrücke hoch. Wir begannen, so einige Läufer*innen einzusammeln. Die 7 Km auf der “Ostkrone” sind brutal. Eine leicht ansteigende, dunkle Betonpiste zwischen Teltowkanal und Autobahn, die erst mit dem VP Johannisthaler Chaussee zu enden scheint. Bis wir den erreichten, war viel Zureden nötig. Einige Läufer schliefen auf den Bänken an der Strecke.
Endlich ging es nach rechts auf den Weg am Kaffeespeicher vorbei und die letzte Treppe hoch, dann bogen wir auch schon in den Park Richtung Dammweg ein. An den habe ich gute und schlechte Erinnerungen. Vor zwei Jahren reifte hier mein Entschluss, am VP rauszugehen – nach 145 Kilometern. Wir hatten zwar erst 138, als wir den VP erreichten, aber mein Stimmungslevel war deutlich besser als vor 2 Jahren. Dennoch musste Steffi mir gut zureden, damit ich aufstehe und weiterlaufe. Der letzte Tiefpunkt der Tour war überstanden. Es wurde nun etwas belebter und als wir Treptow begrüßten, stand bereits wieder der Andi mit seinem roten Helm an der Straße und wartete auf uns.
Auf der Hälfte des Abschnitts löste Andi dann Steffi ab und meine treue Radbegleitung verabschiedete sich in den hart verdienten Feierabend. Was für eine Leistung, ich ziehe den Hut. 100 Km muss man es mit mir erstmal aushalten. Andi würde mich bis ins Ziel begleiten. Ich hatte eigentlich keinen Zweifel mehr, dass das klappen wird. Aber beim Ultra weiß man nie so richtig. Durch die Feiermeute am Schlesischen Tor und über die Oberbaumbrücke hatten wir keine Probleme, da war auch niemand, der uns blöd anmachte oder Fragen stellte. Beim VP Eastside Gallery nippte ich kurz an der Cola und weiter ging es mit Kurs Kreuzberg – Checkpoint Charlie.
Die letzten 10 Kilometer brachen an und ich fing das Nachdenken an. Für die Gürtelschnalle unter 24h wird es locker reichen. Für die Bestzeit aus 2018 (22:08h) nicht mehr. Heute Morgen hatte ich die Chance auf Ankommen auf deutlich unter 50% geschätzt. Und nun zogen wir schon durch die Glasscherben unter den Linden und bogen auf die Scharnhorststraße. Ich hatte keinerlei Orientierung, erst am Spreeufer kamen Erinnerungen an das letzte Jahr hoch. Vorbei am Erika-Heß-Eisstadion und wir waren schon am letzten VP. Was sollte ich da noch groß einkehren, die Messe war fast gesungen. 6,3 Km bis in Ziel in Pankow. Nein, heute würde nichts mehr anbrennen.
Auf dem Weg über die beiden Brücken überholten wir noch so einige Läufer und gratulierten uns schon gegenseitig. Wie immer, die letzten Meter ziehen sich dann noch so richtig und wir fragten uns mehrere Male, ob das denn nun endlich die Zielstraße sei. War sie natürlich nicht. Irgendwann tauchten dann aber die bunten Leuchtbälle auf und mit ihnen das Ziel aller Träume. Der Einlauf war sowas von unspektakulär. Lediglich Sascha Dehling wartete im Ziel, um den Transponder gegen das Finishershirt zu tauschen. Ich war einfach nur froh, dass es nun vorbei war. 161 Km auf dem Mauerweg – es war nach 22 Stunden und 49 Minuten geschafft.
Was bleibt von diesem Abenteuer? Nach einer Woche kann ich da mit etwas Abstand sagen: wieder mal eine ganze Menge. Natürlich Stolz auf die Leistung, aber auch Stolz auf den großen Support, den wir wieder erfahren durften. Der Mauerweglauf ist eine Teamleistung. Ich kann mir nicht vorstellen, hier allein durchzukommen. Von den sieben Startern auf dem ersten Bild haben es sechs geschafft. Mein Herz war groß an diesem Tag und nicht nur im wörtlichen Sinne. Wir hatten tolle Begegnungen, großartige Gespräche und waren in Gedanken immer bei den Menschen, die auf diesem Weg ihr Leben lassen mussten. Die Geschichte der Berliner Teilung ist auch unsere Geschichte. Wir hatten das Glück zu erleben, wie dieses Monstrum von Mauer eingerissen wurde. Und das Glück, auf diesem Weg zu laufen. In dieser Dankbarkeit werden wir das ganz sicher auch im nächsten Jahr wieder tun und dann ein gemeinsames Foto unter dem Zielbogen machen.
P.S. Am 20.09. um 18:00 Uhr plaudern Tobias und ich (Henrik) im Skinfit Shop München über diesen langen Tag. Tobias hat mit Startnummer 1 den Lauf in 21:38h geschafft. Münchner, wir freuen uns auf euch! Anmeldung hier.
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