Es ist Donnerstagmorgen etwa 6:30 Uhr, als versuche, wenigstens ein paar Schritte zu laufen. Der erste Anstieg des Tages mit etwa 500 Höhenmetern zieht sich hoch vom Col de Vizzavona, wo wir die wieder mal kurze Nacht in einem Hotel verbracht hatten. Jeder Schritt zieht einen stechenden Schmerz nach sich. Die Vierergruppe ist längst enteilt und außer Sichtweite.
Ich kämpfe seit dem ersten Schritt um 05:30 Uhr einen inneren Kampf. Als ich oben am Kamm bin, setzt sich die Erkenntnis durch, dass ich mit den notdürftig behandelten Blasen an beiden Füßen nicht mehr weitergehen kann (mit Laufen hatte das Ganze sowieso nichts zu tun). Ich halte an, tippe eine Nachricht in die WhatsApp-Gruppe und kehre nach 4,5 Km Richtung Hotel um. Was wie eine rationale Entscheidung klingt, ist mir wahrlich nicht leicht gefallen.
Aber im Nachhinein betrachtet erscheint der Exit nach den ersten drei langen Tagen in den Bergen Korsikas fast logisch.
Eigentlich war das Korsika-Crossing auf dem legendären GR20 schon nach einem Tag beendet. Fast 13 Stunden hatte ich mich am Montag über die ersten 25 Km gequält. Von der ersten Minute an fühlte es sich nicht gut an. Die Wettervorhersage zeigte Temperaturen von bis zu 30 Grad an. Ich hoffte auf Wasserquellen, aber darauf sollte man sich in diesem Gelände nicht verlassen.
Erst zum Abend hin, als die Sonne abgetaucht war, kam ich etwas in die Gänge. Nach dem Abendessen konnte mich die Gruppe vom Ausstieg abhalten, um zumindest bis zum Treffpunkt mit dem Tourbus am zweiten Tag am Castel Vergio mitzugehen.
Doch ich hatte nicht richtig zugehört. Die zweite der sechs Etappen ist die Königsetappe, wenn man den GR20 von Nord nach Süd geht. Die Gruppe wollte über die “Cirque de la Solitude” aufsteigen, den “alten” GR20, der zwar offiziell nicht mehr gesperrt ist, aber nicht mehr gepflegt wird. Die Markierungen sind verwaschen und die Sicherungen nach einem verheerenden Bergsturz im Jahr 2015 mit 7 Todesopfern abgebaut. Dass wir diesen Weg hochgehen, hatte ich erst spät verstanden, als ich mich über die schwachen Markierungen gewundert hatte.
Und wäre die Schweizer Klettermaschine Bruno nicht bei mir geblieben, ich wäre niemals allein diesen Steinbruch hochgeklettert, abgesehen davon, dass ich den Weg sowieso nicht gefunden hätte. Dass hier immer noch Wanderer mit 15 Kg-Rucksäcken durchsteigen, erscheint mir unglaublich. An diesem Morgen kam uns jedenfalls niemand entgegen.
Aber der Abstieg durch den Kessel war nicht minder problematisch. Die Gruppe hatte auf uns gewartet und wir benötigten für die Kletterei über glatte Felsen mehr als 45 Minuten. Ich bin gar nicht so leicht zu beeindrucken, aber das war kreuzgefährlich. Ein von mir losgetretener Stein flog durch Guntrams Beine. Einer dieser Momente, wo ich mich ziemlich fehl am Platz gefühlt habe.
Raus aus dem Kessel und auf dem Weg zur Hütte wurde es laufbarer. Zum ersten Mal überhaupt. Wir flogen förmlich ins Tal. Die Abstiege sind ewig lang. Das erste Bad in der Gumpe hob die Laune merklich an. Und so redete ich mir ein, dass das ja alles doch irgendwie schon machbar wäre.
Die üblichen drei Cola auf dem Refuge setzten ungeahnte Kräfte frei und beim Castel Vergio verschwendete ich keinen Gedanken mehr daran auszusteigen. Wir aßen und packten die Rucksäcke für den letzten Aufstieg. Übernachtet werden sollte in einer Bergerie, wo der Schäfer ein paar Zelte auf seiner Weide hatte. Ich hatte nicht mal eine Reservierung.
Die Sonne war abgetaucht und ich konnte phasenweise gut laufen. Aber die Füße machten sich schon bemerkbar. Die Jungs organisierten mir ein Zelt und wir bekamen um 20:30 Uhr sogar noch etwas Laufwarmes zu essen (Erbsen und Möhren aus der Dose). Die Nacht im Zelt war bitterkalt und so ließ ich die Socken an (ich hatte sowieso keine Ersatzsocken mit).
Um 6:00 Uhr brachen wir wieder auf, um erstmal zum Refuge Manganu zu kommen. Dort sammelten wir Bruno ein und rein ging es in den Berg zum ersten vertical Km des Tages. Ich war todmüde und kraftlos und musste die Gruppe schnell ziehen lassen. Der Aufstieg konnte zum Glück am Schneefeld vorbei erfolgen. Doch bis ich oben war, waren schon wieder drei Stunden ins Land gezogen.
Ich freute mich aber genauso wenig auf den Abstieg. Vorher mussten wir uns an einer Kette abseilen. Ich habe mich so blöd angestellt, dass allein das über eine halbe Stunde gedauert hat. Die Gruppe wartete immer wieder auf mich, aber seit Anbeginn hielt ich die Seilschaft zuverlässig auf.
Einiges habe ich verdrängt, ich kletterte über ausgesetzte Grate und unterhielt mich immer wieder mit Wanderern, weil ich kaum schneller war als diese. Ist man eine Scharte durchgeklettert, folgt garantiert die nächste. Es war glutofenheiß. Aber sich irgendwo hinzusetzen und zu heulen hilft ja auch nicht.
Da ich den Abstieg von einer Scharte nicht fand, wartete ich auf den nächsten Wanderer und stieg dem dann hinterher. Zusammen mit der Gruppe kämpften wir uns zur letzten Hütte runter. Auch dieser Abstieg wollte nicht enden. Und so ziemlich jeder laufbarer Abstieg endete irgendwann mit einem Abflug (vorzugsweise in die schön dornigen Büsche).
Es ging nochmal 700 HM hoch zum letzten Gipfel des Tages. Der Endgegner hat mich nicht kleingekriegt, weil ein leichter Wind wehte… und im Sonnenuntergang dann “nur” noch runter ins Tal nach Vizzavona. Mehrfach kam ich vom Weg ab und musste zurück klettern. Zunehmend wurde der Weg aber laufbarer und als ich Guntram und Wolfgang an der Gumpe sitzen sah, war klar, dass es auch an diesem Tag irgendwie zum Finish reichen würde.
Um 20:30 Uhr kamen wir zu dritt am Hotel an. Meine Füße schmerzten überall, aber nicht so, dass es mich wahnsinnig behindert hätte. Der Überlebensmodus hatte das ausgeblendet. Ich aß alles, was ich kriegen konnte und war guter Dinge, dass ich die Blasen mit Blasenpflastern schon in den Griff kriegen würde.
Doch am nächsten Morgen wurde ich schmerzhaft eines Besseren belehrt.
Mit Michael und Sohnemann war ich dann im Tourbus unterwegs aber das mündete nicht in Erholung. Am Col de Verde trafen wir die vier eisenharten Trailrunner angeführt von Gaby. Dort packten sie die schweren Rucksäcke für die Übernachtung in einer nicht bewirtschafteten Hütte. Ich war beeindruckt von diesem Durchhaltevermögen und war nicht sicher, ob ich lieber in der Gruppe sein wollte. Ich konnte mich zumindest ein wenig im Bergdorf Quenza erholen, da wir die Gruppe erst am Freitagnachmittag wieder treffen sollten.
Da Michael und Julian vom Bavella-Pass zum Refuge Paliri absteigen und dort übernachten wollten, bot ich mich an, am Pass auf die Vierergruppe zu warten und sie dann zum Hotel nach Zonza zu fahren. Es wurde ein sehr langer Tag. Um 22:30 Uhr spuckte der Berg vier Stirnlampen aus. Mir ist es rätselhaft, wie man diese Wege im Dunkeln absteigt. Zu essen gab es an diesem Abend selbstredend nichts mehr. Nicht mal das konnte die vier Musketiere noch beeindrucken.
Die “Auslaufetappe” war zumindest für die Gruppe dann fast entspannt. Am Morgen fuhr ich sie wieder hoch zum Pass, um sie dann in Conca -dem Ziel des GR20- zu empfangen. So richtig eilig hatte es niemand mehr. Gute 80 Km ging es runter zur Küste und dann wieder hoch nach Conca. Ich ging der Gruppe noch 5 Km bis zur Badestelle entgegen. Allein das war in der Hitze sehr fordernd. Um 14:30 Uhr trafen Wolfgang und Gerhard dann in der Bar GR20 ein. Was für ein Ritt.
Und so saß ich am späten Samstagabend im Flieger nach Berlin und war einerseits traurig, aber andererseits froh, dass es diesmal trotz aller Anstrengungen nicht gereicht hat. Der GR20 hat mir meine Grenzen sehr deutlich aufgezeigt. Ich war in zweierlei Hinsicht ungenügend vorbereitet.
Das ist kein “Wanderweg”, den man auch in schlechtem körperlichen Zustand schon irgendwie bewältigen kann. Es ist in nicht unwesentlichen Teilen ein Klettersteig auf alpiner Höhe mit sehr exponierten Stellen. Das habe ich kolossal unterschätzt. Wenn du einmal Höhenangst bekommst oder unsicher wirst, dann wird es schnell gefährlich. Der Rettungshubschrauber fliegt jeden Tag über die Insel.
Hinreichend für das Gelingen dieser Überquerung in 5,5 Tagen ist die mentale Vorbereitung. Nicht ungewöhnlich, dass man ein paar Jahre braucht, um sich für diesen Weg bereit zu fühlen.
GR20, wir sind noch nicht fertig.
Beeindruckender Bericht, danke dafür. Ich war 2004 einer derjenigen denen du begegnet bist, mit 15kg-Rucksack und Verpflegung für 5 Tage. Wir sind unterwegs auch irgendwo ausgestiegen, da die Kletterstellen mit dem Gepäck zu heikel waren. Trotz allem, landschaftlich war es atemberaubend und irgendwann werd ich da nochmal hin 😉
Brutal.
Mein großer Respekt für jeden Kilometer, den du auf diesem Weg zurückgelegt hast!