Erfahrung schlägt Training
Regelrecht kühl war es am Samstagmorgen um kurz vor 8 Uhr, als uns der Shuttlebus im Bergdorf Artenara nach einer 2,5h langen Fahrt auskippte. Ich zog mir meine Regenjacke an und wollte die Startverpflegung suchen. Zuvor warf ich aber noch einen Blick auf das Livetracking, um den Andi zu verfolgen. Der war am Freitagabend um 23:00 Uhr am Playa de las Canteras in Las Palmas gestartet, um 128 Km mit 7.500 Höhenmetern über die Insel zu crossen. Und siehe da, sein Durchlauf in Artenara wurde für 8:04 Uhr prognostiziert. Im nächsten Moment sah ich schon sein leuchtendes Shirt und ihn winken – er flog förmlich den Hang hoch. Bestens gelaunt marschierte er weiter und ich begleitete ihn einen Kilometer zur Halbzeit seines Rennens, so konnte ich mich schon etwas aufwärmen. Das machte mir sehr viel Mut für meinen Lauf.
Die Vorbereitung auf den Transgrancanaria fiel bei mir fast komplett ins Wasser. Im Dezember kränkelte ich vor mich hin, dazu gesellten sich pünktlich zum Jahresende Shin Splints im linken Schienbein. Da ich natürlich nicht pausierte, zickte auch noch das rechte Knie, wahrscheinlich eine Folge der Fehlbelastungen. Im Lanzarote Laufcamp Ende Januar lief es dann wieder erstaunlich gut. Aber ausgestanden war die Verletzung leider nicht. In der Woche danach stellte ich mein Training komplett ein und humpelte durch die Gegend. Überhaupt zu laufen erschien angesichts meines Zustands idiotisch. Deshalb hatte ich insgeheim gehofft, dass Arista gar keine Ummeldung erlaubt. Aber überraschenderweise war das unproblematisch. Nur den Marathon hatten sie geschlossen. Und so nahm ich am Freitag eine grüne Blanko-Startnummer mit. Drei Trainingsläufe auf Gran Canaria brachten nicht viel Erkenntnis. Mir fiel bergauf sehr schwer aufgrund der mangelnden Kondition und bergab sah das eher nach Runterstolpern aus – Trittsicherheit dringend gesucht. Und dann 66 Km rennen? Kann man machen.
Mein Neffe Max startete erstmals bei einem Trailrun. Wir hatten am Montag einen gemeinsamen Trainingslauf von Ayagaures nach Tunte unternommen und dabei schon fast 1.000 Höhenmeter geschnupft. Seine Distanz waren zwar nur 17 Km an der Küste, aber er war damit auf die 300 Höhenmeter gut eingestimmt. Und rockte seinen Lauf dann locker unter 2h. Sein erster internationaler Wettkampf war also ein voller Erfolg. Erst im letzten Jahr hat er mit dem Laufen angefangen, um sein Immunsystem im Kampf gegen einen Gegner zu stärken, der mit ziemlich fieser Bewaffnung arbeitete. Jetzt konnte er seinen Sieg mit dem Einlauf beim Transgrancanaria Promo unterhalb des Leuchtturms von Maspalomas feiern. Der Zieleinlauf wurde von der Expomeloneras wieder an den Strand unterhalb des Leuchtturms verlegt, eine sehr gute Entscheidung. Dort ist es wesentlich stimmungsvoller und ich hatte die Bilder von 2014 wieder vor Augen, als mich meine Familie nach dem Marathon im Ziel erwartete. Im nächsten Jahr gibt es auch für Max ein Upgrade, dann wartet die 30 Km-Strecke auf den angehenden Trailrunner.
Mein Schlachtplan war eigentlich ganz einfach: kontrolliert das Rennen angehen, würdevoll bis Tejeda kommen, und wenn das Bein hält, dann hoch zum Roque Nublo und weiter bis Garañon. Das ist der beste Punkt zum Aussteigen, von dort kommt man ganz gut wieder runter. Dann wären 22 Km gelaufen und es ist keine Schande, dort in den Shuttlebus zu steigen. Wenn ich es tatsächlich bis Ayagaures beim Km 47 bringen würde, dann wäre auch dort noch eine Exit-Möglichkeit. Dort steht nämlich unser Ferienhaus 50 Meter vom Verpflegungspunkt entfernt.
Stefan und Ulrike habe ich bis kurz vor Startschuss noch gesehen. Als es um 8:55 Uhr losging, war ich dann auf mich allein gestellt. Der Anstieg zum Cruz de Tejeda ging recht locker. Es war aber auch noch kühl und schattig. Ich hatte Eisspray und Stöcke im Rucksack. Runter hatte ich dann erwartungsgemäß mehr Schwierigkeiten. Hier wurde ich dann kräftig durchgereicht. Ich war sehr vorsichtig und trat lieber einmal zuviel als zuwenig auf. Schmerzen stellten sich noch nicht ein. Mein Lieblingsdownhill nach Tejeda dauerte dann halt gefühlt doppelt so lang wie im Vorjahr und so war ich nach guten 90 Minuten am ersten Checkpoint, also nur 15 Minuten langsamer als 2019.
Ich blieb entspannt, genoß den Ausblick auf den Roque Nublo, walkte einen Kilometer auf der Straße und freute mich, dass ich überhaupt in meinem Lieblingsrennen mitlaufen konnte. Dass ich bis Garañon kommen würde, zweifelte ich nun nicht mehr an. Der Anstieg zum Roque Nublo ist kein schwieriger, etwa 600 HM sind gut kletterbar, immer wieder sind flachere Abschnitte enthalten. Noch nie kam ich so entspannt da oben an. Im letzten Jahr pfiff ich da schon auf dem vorletzten Loch. Für Fotos war natürlich Zeit und so dauerte die Pendelstrecke halt länger. So what. 2,5 Km sind es bis zum großen VP in Garañon. Dafür muss man noch einmal zur Staumauer runter- und danach zum Campingplatz hochklettern. Meine Beine waren schon ziemlich schwer, als ich dort nach etwa 3,5h einlief. Die Offizielle pickte sich die Läuferin vor mir zum Materialcheck raus und ich gönnte mir ein paar Salzkartoffeln und zum ersten Mal Cola.
Es war schon sehr warm am Samstag, aber bei weitem nicht so schlimm wie im Vorjahr. Der Calima hatte sich erst für Sonntag angekündigt. Der Anstieg zum Pico de las Nieves ist nicht mehr ganz so steil wie früher. Im zügigen Walkingschritt konnte ich bergauf immer wieder überholen. Downhill sah ich dann aber alle Überholten wieder. Und so ging das manchmal zehn Mal hin und her. Ich hatte mich wohl etwas zu sehr eingegroovt in meinem Walk-and-Run-Rhythmus. Etwa 4 Km nach dem VP lag ich dann plötzlich, just in der Phase, wo ich wieder etwas zulegen wollte. Die Hand war etwas aufgeschlagen, aber zum Glück war nicht mehr passiert. Obwohl zwei oder drei Leute meinen Sturz gesehen hatten, hielt niemand an und fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Das geht besser, liebe Freunde. Wir waren hier im läuferischen Niemandsland unterwegs, spielt da Position 110 oder 111 wirklich eine Rolle? Ich versorgte meine Wunde, saß ein paar Minuten und stakste weiter. Der Schock saß trotzdem erstmal und so blieb ich noch vorsichtiger. Der Römerweg war dann nicht so angenehm zu laufen und als ich die Bundesstraße sah, schickte ich eine Nachricht an meine Crew, dass ich Kurs auf Hierbahuerto halte, wenn auch etwas angeknockt. Immerhin, das Bein hielt.
Ich hatte mich für einen Minimaltrailschuh entschieden, den Brooks PureGrit 9. Die Idee war, möglichst wenig Impuls auf das Schienbein und das Knie zu geben. Damit lag ich sehr gut. Nicht mal eine Blase trug ich als Andenken davon. Der besagte PureGrit trug mich sicher über die GC-60 und auf den Weg hoch zum Stausee Embalse de Chira. Das ist ein richtig ätzendes Wegstück. Ich bin 2019 im Training das Stück mal in 1:45h gelaufen. Dazu haben der Triathlet und ich das gleiche nochmal im Dunkeln in etwa 2:45h absolviert (keine weiteren Nachfragen dazu bitte). Der VP wartet erst nach etwa 300 gut verteilten Höhenmetern. Ich teilte mir meine Getränke gut ein, im letzten Jahr habe ich es gerade so bis zum VP geschafft. Und ich sah einige Teilnehmer, die ständig auf die Uhr schauten und den Checkpoint erwarteten. Noch ein Kehre, noch ein Hügelchen und da war er immer noch nicht! Meine Uhr hatte schon auf 39 Km umgeschlagen, dann erst konnte ich endlich auffüllen. Die Wärme machte mir jetzt sehr zu schaffen, immerhin konnte ich mein Cap nassmachen. Schatten gab es da oben aber keinen Millimeter, also walkte ich weiter. Next stop in 10 Km: Ayagaures!
Drei bis vier Kilometer kann man nun laufen, die Strecke ist nicht sehr technisch. Aber das ist das eigentlich Tückische am TGC: man kommt nie in einen Rhythmus. Runter nach Ayagaures warten dann wieder Hinweisschilder „Attention! Technical Section ahead“. Die Sonne brezelte jetzt heftig in den Barranco. Sieben Stunden standen auf der Uhr, als ich auf den letzten Abstieg den Hang runter nach Ayagaures einbog. Die Crew erwartete mich vor unserem Ferienhaus und ich verschwendete jetzt keinen Gedanken mehr daran, 17 Km vor dem Ziel auszusteigen. Rüber über den Staudamm, ich konnte sogar ein paar Abschnitte hoch zum Kamm noch laufen. Auf den letzten 170 Höhenmetern schickte ich sogar dem Triathleten noch ein Bild. Wenig später hatte er mich vor einem Jahr genau hier eingeholt.
Der Abstieg in das Flussbett des Grauens fiel mehr sehr schwer, meine Beine waren einfach Matsch. Jetzt rächte sich das fehlende Training. Aber ich bin diesen Abschnitt 2017 schon mal im Dunkeln gewalkt, also schlimmer geht immer. Irgendjemand musste am Vorabend noch Steine in den Barranco gekippt haben, das waren definitiv viel mehr als noch am Dienstag! Ich schlurfte mich irgendwie durch. Mit Laufen hatte das jetzt nichts mehr zu tun, aber immerhin war es schon schattig. Ich überholte noch einige wenige Classic-Läufer, die diesen Ritt vor Sonnenuntergang ins Ziel bringen würden. Für mich flackerte bei jedem einzelnen der Traum wieder auf, das auch einmal zu schaffen. Nun gab ich mich aber mit dem zufrieden, was ich hatte. Das war ja nun nicht wenig. Immerhin 60 Km auf dem Tacho. Es geht raus aus dem Flussbett auf die Staubpiste zur Autobahnunterführung – im Laufschritt.
Arista hatte Erbarmen mit den Läufern, so dass nur etwa einen Kilometer noch im Flussbett gelaufen wird. Ab dem letzten VP „Parque Sur“ 3,7 Km vor dem Ziel darf man oben auf dem ebenen Weg schlurfen. Die lange Zielgerade führt nun wieder direkt auf den Strand von Maspalomas. Auch die letzten Kilometer fühlten sich wahrlich nicht wie ein Abendspaziergang an. Ein paar hundert Meter Sand sind dann auch egal. Ich freute mich sehr, als ich nach fast 10 Stunden durch den Zielbogen schreiten durfte. Angesichts der Rahmenbedingungen war es fast ein Wunder, dass ich mir die 7. Medaille umhängen durfte.
Die Verletzung werde ich nun wirklich auskurieren. Zum Glück habe ich noch keine weiteren Wettkämpfe in diesem Jahr gebucht, da bleibt dann hoffentlich Zeit für den einen oder anderen spontanen Traillauf. Trotz aller Freude über diesen doch noch geglückten Transgrancanaria bleibt eine Rechnung offen. Bei Sonnenaufgang in Artenara und vor Sonnenuntergang am Leuchtturm anzukommen – mit der blauen Startnummer. Una meta, un sueño!