Und er hat es wieder getan: trotz der verpatzten Premiere im letzten Jahr, als beide Twins schon die Startnummer abgemacht hatten, wollte es Marek dieses Jahr nochmal wissen. Und hat sich wieder auf die 100 Meilen entlang des Berliner Mauerweges begeben. Bevor Ihr jetzt denkt, da kommt nun bestimmt wieder so eine endlos lange Geschichte wie 2018: keine Sorge. Obwohl ich das Ziel dieses Mal tatsächlich nur lächerliche 12min eher erreicht habe, war es vielleicht nicht ganz so dramatisch, wenn auch nicht weniger ereignisreich. Ist ja auch ein verdammt weiter Weg, diese 100 Meilen.

Gegen das Vergessen. Mit dem Mauerweglauf werden die Menschen geehrt, die ihr Leben an der monströsen innerdeutschen Grenze gegeben haben. Das, weil sie eine andere Vorstellung von Leben hatten, als es die DDR-Obrigkeit vorgab, weil sie nicht in einer Diktatur leben wollten, dessen Machthaber die Freiheit des Einzelnen auf dramatische Weise eingeschränkt haben. Bei km55 passieren wir die Gedenkstätte von Dieter Wohlfahrt, der in diesem Jahr von den Läufer*innen geehrt wird und dessen Konterfei die Medaille tragen wird. Jeder kann seine Gedanken auf eine kleine Karte schreiben und diese an die aufgestellte Pinnwand heften. Fast alle machen davon Gebrauch, auch das gehört zum Geist dieses Laufes. Alle halten kurz inne, stellen eine Kerze auf. Niemand vergißt, warum wir heute die Möglichkeit haben, diesen langen Weg entlang der ehemaligen Grenze zu gehen. Allein dafür lohnt es sich, diese Herausforderung anzunehmen.

Die Vorzeichen, die 100 Meilen zufriedenstellend zu bewältigen, standen schlecht. Genau genommen sehr schlecht. Nicht wenige rieten mir Tage zuvor von dem Unternehmen ab, und das völlig zurecht. Als ich mich am 9.11.2018 in die Startliste eintrug, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was in diesem Jahr alles auf mich zugerollt kommt. Ein ständiger Spagat zwischen Familie, Politik, Job und, ach ja, dem Training. Das diesen Namen eigentlich nicht verdiente. Der erste Schlag ins Gesicht kam im Februar, als ich auf den 56km um den Plauer See völlig eingegangen bin und nur mangels Transportmöglichkeit ins Ziel stolperte. Danach habe ich schnell die nächsten Vorhaben beerdigt. Auch der Rennsteiglauf im Mai war schlecht vorbereitet, aber es lief den Umständen entsprechend gut. Vielleicht habe ich mich da etwas zu sehr blenden lassen. Nach ein paar Staffel-Ausflügen beim Berlin-Triathlon (Platz 2) und der Berliner Teamstaffel (Platz 3 am Freitag) war aber an ein strukturiertes Ultra-Training nicht zu denken: die Brandenburger Politik hatte mich fest im Griff und ich schaffte mit meiner Partei, womit ich im letzten Jahr niemals gerechnet hatte. Die Teilnahme an der Landtagswahl am 1. September. Der besagte 17. August des Mauerweglaufes lag genau im Wahlkampf.

Und noch etwas kam hinzu: der Geburtstermin unseres 4. Sohnes wurde auf den 25. August datiert. Viele hätten unter diesen Bedingungen abgewunken und vernünftigerweise auf eine Teilnahme verzichtet. Ich weiß nicht genau was es war, aber etwas in mir hielt an dem Lauf fest. Mit Vernunft hat Laufen aber bekannterweise manchmal nicht soviel zu tun. Und so trug es sich zu, dass ich nach einer sehr kurzen Nacht am Samstagmorgen des 17. August um 06:00 tatsächlich im Jahn-Sportpark an der Startlinie dieser denkwürdigen Veranstaltung stand. Und das, obwohl ich dort partout nichts zu suchen hatte.

Zumindest den Support hatte ich vorher halbwegs gründlich organisiert bekommen. Janos wollte bis km45 mit mir loslaufen, Thomas ihn von da bis km52 (ab da offizielle Radbegleitung erlaubt) ablösen. Sven hatte ich fest für die Radbegleitung gebucht, die knapp 110km bis ins Ziel sollte er an meiner Seite sein. Ab Teltow (km102) hatte sich Erik angekündigt, der mich bis nach Rudow unterstützen wollte. Und auch Andreas wollte mit dem Rad die Strecke unsicher machen. Wie schon im letzten Jahr sollte sich die grandiose Unterstützung als ein wichtiger Baustein dieses Unterfangens erweisen. Ohne all diese tollen Menschen um mich herum hätte es auch diesmal nicht zum Finish gereicht.

Gegen den Uhrzeigersinn geht es um Punkt 06:00 in den Norden Berlins. Die Stadt ist schnell verlassen, die ersten 30km fliegen erwartungsgemäß schnell vorbei, Janos hält mich bei Laune und wir plaudern über vieles, immer kontrolliert in der geplanten 6min-Pace. Das Feld bleibt lange zusammen. Ich hoffe, dass ich mit dem langsamen Tempo Kräfte für den zweiten Teil sparen kann. Zunächst geht der Plan auch gut auf. Das Wetter spielt super mit, von der Sonne ist nichts zu sehen und es regnet sogar ganz leicht. Wir machen uns überhaupt keinen Stress, pausieren kurz am Ruderclub, immer wieder treffe ich bekannte Gesichter. Die ersten Staffeln pfeifen schon nach 25km an uns vorbei. Nach 40km wird aber mein Gefühl zunehmends schlechter. Die Ermüdung kommt ganz plötzlich. Als Thomas bei km45 dazukommt, kommen mir die ersten Zweifel. Der Kämpfer-Modus muss schon jetzt eingeschaltet werden. Viel zu früh.

Bei km52 (VP9) warten die Radbegleiter, nur Sven + Sohnemann sind nicht zu entdecken. Dabei waren wir nur wenige Minuten vor der geplanten Zeit da. Thomas bleibt deshalb noch weiter dabei und organisiert, dass Sven dann eben auf uns auffahren muss, die Bahn hatte Verspätung. Es dauert dann bis km60, bis sie uns schließlich erreichen. Zu dem Zeitpunkt hege ich erste Ausstiegsgedanken am nächsten Wechselpunkt, in Sacrow. Die Strecke ist in dem Bereich teilweise sehr fies, einige Rampen sind kaum mehr laufbar. Und noch etwas trübt meine Stimmung: die Temperaturen gehen schnell nach oben und die Sonne brennt auf uns nieder. Bei Pagels sitze ich erstmalig etwas länger, zu gut ist noch die Erinnerung von 2018, wo ich dort auf mein Taxi gewartet hatte. Ich erkenne jede einzelne Stelle wieder, wo ich vor einem Jahr gedanklich das Rennen beendet hatte. Ein komisches Gefühl. Bis Sacrow quäle ich mich schon ordentlich, der erste Schwung von hinten zieht an mir vorbei. Die enge Straße vor und nach dem VP nervt unendlich. Dabei war noch nicht mal Halbzeit!

Immerhin erinnere ich mich an die Fettcreme im Dropbag und packe die ein, die heftigen Schmerzen durch Wundscheuern wie im letzten Jahr wollte ich mir diesmal schließlich ersparen. In Krampnitz empfängt uns Svens Frau und nimmt den Kleinen auf dem Rad auf, er war nach über 50km verständlicherweise kaputt. Ich checke erst gar nicht, mit wem sich Sven dort so vertraut unterhält, die Wahrnehmung war schon gnadenlos auf dem Rückzug. Und so langsam weiß ich nicht mehr, was ich trinken soll. Wasser kann ich nicht mehr sehen, Cola klebt ekelhaft und löscht den Durst nicht, Iso meide ich wie die Pest. Sven versorgt mich stündlich mit 5 Salztabletten. Auch das war so eine Sache, die mich wahrscheinlich lange am Leben gehalten hat. Dann aber gehen langsam die Lichter aus. “Läuft. Das läuft bei uns.” – Sven kommuniziert die aktuelle Lage in die Heimat, immer “leicht” geschönt und optimistisch. Bei mir lief aber schon länger nichts mehr. Wir waren nun sehr langsam unterwegs, an die 6er Pace war nicht mehr zu denken. Die Glienicker Brücke geht nur im Power-Walking-Modus und der anschließende, 6km lange Königsweg entpuppt sich stellenweise als der zweite Mount Everest. Alle kämpfen hier. Die ersten Pärchen finden sich, um gemeinsame Sache zu machen. Kräfte werden gebündelt. Die Sonne brennt uns unaufhörlich auf den Pelz und verschlimmert meine Situation zusehends. Jeder einzelne Becher Flüssigkeit bahnt sich Sekunden später seinen Weg nach draußen. Gefühlt muss ich im ganzen Rennen ca. 60-80x in den Busch. Auch diesmal funktioniert die Ernährung nicht gut.

Teltow und die dreistelligen Kilometer wollen nicht näher kommen. 18 Uhr war der ursprüngliche (schon konservative) Plan für die Ankunft, auch diesen werden wir grandios reißen. Viel rechnen muss man nicht, um das zu erkennen. Der Wandertag hat längst bekommen, als wir am Kanal schon die Turnhalle sehen, aber noch elende Kilometer erst nach Osten und dann wieder auf der anderen Seite zurück nach Westen pilgern müssen. Eine richtig gemeine Aufgabe für den Kopf, die mich dann auch das erste Mal überfordert. Ich komme kaum noch vernünftig voran und entleere notgedrungen meinen Mageninhalt 400m vor der Turnhalle, um auch die letzten Meter zu schaffen. Wer schon einmal in so einer Situation war, der weiß, dass die Gedanken an ein vorzeitiges Ende nun sehr konkrete Formen annehmen. Die fehlenden 60km erscheinen mir so gut wie unmöglich in diesem Moment.

Aber ich habe noch einen Joker: Erik ist wie verabredet da und macht keine Anstalten, ohne getane Arbeit wieder abzureisen. Ich lege mich auf die weiche Matte in der Halle, bekomme eine Decke gegen die schnelle Auskühlung und versuche, eine Brühe runterzubekommen. Elekrolyte, Salzstangen, Kartoffeln – alles wird mir angeboten, auch Svens Frau ist wieder da und unterstützt so großartig. Auch wenn ich sicherlich nicht mehr ganz fit war, so dreckig wie 2018 geht es mir zum Glück nicht. Und die ganze Zeit redet eine Stimme in mir auf mich ein, dass ich mich schonmal aus so einer Situation herausgeholt habe. Der Arbeitstag ist noch nicht beendet. Ich glaube auch, dass alle um mich herum sehr genau wissen, dass ich wieder aufstehen und auf diese verdammte Strecke gehen werde. Nach 45min Pause passiert genau das. 60km liegen noch vor uns. Niemand hatte die Absicht, 100 Meilen zu laufen!

Mit Laufen hat das Folgende wenig zu tun. Wir herzen Sahra und Markus, die uns ein paar Kilometer später aufmuntern, die Stimmung ist nachwievor sehr gut. Den applaudierenden Kids am Straßenrand werfe ich ein “niemals nachmachen” zu und auch dafür gibt es Applaus. “Es läuft” wieder. Das Skurrile an dieser sich immer wiederholenden Aussage ist: irgendwann glaubst du es. Das Gehirn ist mittlerweile soweit runtergefahren, dass jegliche Energie ins Vorwärtskommen gepumpt wird. An der Osdorfer Straße muntert mich ein älterer Läufer auf: “Ich weiß genau, wie es dir gerade geht. Ich wünsche dir, dass die die Kraft findest, da rauszukommen. Es ist nicht mehr weit.” Boah, das tut unheimlich gut.

Jegliche Affektiertheiten sind schon lange wie weggewischt, alle bilden eine imaginäre Einheit, es ist wie eine kleine Familie, die sich einem Ziel verschworen hat: 100 Meilen über den Mauerweg zu bewältigen. Kurz noch den Magen entleert (mittlerweile habe ich so etwas wie Routine) und es geht wieder auf die Piste. Es ist ein schlimmer Abschnitt, es wird dunkel und die Waldpassagen wollen nicht enden. Zwischendurch reißt Sven noch die Bremse, er bekommt es irgendwie an einem VP wieder repariert. Es ist ein irrer Kampf geworden. Der Körper schreit schon lange nach Aufhören. Immerhin bekomme ich die (Bio-)Kartoffeln von Erik runter, kurz danach kommt tatsächlich so etwas wie ein Hoch. Andreas gesellt sich zu uns und leuchtet mit seiner Radlampe den halben Mauerweg aus. Genial! Im Dunkeln tauchen zwei Streckenposten auf und aktivieren den Transponder – es gab wohl Probleme mit der Zeitmessung. Für mich war die Zeit schon längst absolut nebensächlich.

Die Wadenmassage, die mir Erik auf einer Bank im Niemandsland verpasst, tut richtig gut. Ich habe die Augen mehrfach zu und schlafe fast ein. Und doch erreichen wir endlich den VP am U-Bahnhof Rudow bei km131. Ein ganz wichtiger Punkt, die Stadt ist erreicht. Erik verabschiedet sich in die Nacht. Wie schon vor einem Jahr war seine Begleitung sehr wertvoll. Mit Sven und Andreas geht es weiter in Richtung Ostkrone. Ich kenne jetzt die Strecke sehr genau, das motiviert mich und es folgen einige längere Laufpassagen. Auch auf der dunklen Ostkrone an der Autobahn läuft es erstaunlich rund. Am VP an der Johannisthaler Chaussee kommt der Andi plötzlich aus dem Dunkeln. Von da an geht es zu viert weiter. Ich denke mir mehrfach, dass die Wenigsten so eine geniale Crew an ihrer Seite haben wie ich heute. An der Kiefholzstraße verlaufen wir uns das erste Mal. Es sind die einzigen Extra-Meter an diesem Tag. Andreas verabschiedet sich gegen 3Uhr von uns. Andi beschließt, das er uns ins Ziel begleiten will. Ganz stark.

Die Oberbaumbrücke wird zur Nervenprobe, Menschen über Menschen, bloß schnell wieder raus aus dem Getümmel. Der VP an der East-Side Gallery ist seit Langem der erste, an dem ich mich nicht hinsetze. Als wir dann wieder nach Osten abbiegen, 12km sind es nur noch, ist erstmal Feierabend. Laufen geht partout nicht mehr, ich suche jede Möglichkeit zum Hinsetzen. Das Brandenburger Tor ist nur 100m entfernt, die Strecke an der Spree ist mir wohlbekannt. Entweder wurde hier an den Markierungen gespart oder wir sind zu blöd, diese zu erkennen. Ich bin mir aber sicher, dass wir richtig laufen. Dann der allerletzte VP. Karsten wartet dort und zollt mir Respekt. Wen man alles an einem Sonntag um 5Uhr in Berlin begegnet! Auch das ist das Schöne an diesem Lauf. Die Bernauer Straße markiert die letzten 2km.

Der Regen hat längst wieder eingesetzt. Das Stadion kommt in Reichweite. Was geht einem in diesem Moment durch den Kopf? Ganz viele unterschiedliche Dinge. Vor allem ist da die Gewißheit, dass man auch diesmal diesen Kampf für sich entschieden hat. Es ist ein unglaublich erhebendes Gefühl, das einen auch im Laufschritt über die Stadionrunde trägt. Plötzlich fällt es leicht, man will gar nicht, dass es jetzt “schon” vorbei ist. Es ist so paradox. Da ist man knapp 24h unterwegs, kämpft und leidet und jammert vor sich hin, sehnt sich nach dem Ziel – und möchte nicht, dass es aufhört. Es gibt so einige Dinge, die kann man beim Mauerweglauf nicht erklären. Es ist etwas sehr Besonderes, auf diesem Weg sein zu dürfen. Und auch deshalb bereue ich keine Sekunde, als ich nach mehr als 23h über die Ziellinie krieche.

Sven hält auch diesen Moment fest, wir waren ein verdammt starkes Team. Soviele haben mir wieder auf diesem Weg geholfen, es ist für mich unschätzbar wertvoll, dass ich diesen Support genießen durfte. Es bedeutet mir sehr viel.

Warum bin ich überhaupt nochmal diesen Weg gegangen? Natürlich, die Back2Back-Medaille, die mir Harald am Sonntag überreicht, macht mich stolz. Aber das ist bei Weitem nicht alles. Der Mauerweglauf, das ist einer dieser Läufe, die mich nicht mehr loslassen. Eine unsichtbare Kraft zieht mich dorthin und ich kann mich nicht dagegen wehren. Und manchmal ist es wirklich von Vorteil, wenn wir Entscheidungen nicht nach rationalen Gesichtspunkten treffen, sondern unserem Herzen folgen. Dieser Weg wird immer in meinem Herzen bleiben. Das ist eine der Erkenntnisse, die ich an diesem Wochenende gewonnen habe.