Das letzte Wochenende war geprägt von einem Experiment mit ungewissem Ausgang. Zwei Wettkämpfe innerhalb von 24h, der Halbe am Samstag und der Ganze am Sonntag – die “Läuferkrone” des Spreewaldmarathons hatte ich kurz vor Weihnachten für mich entdeckt und mich spontan angemeldet. Groß Gedanken hatte ich mir zu dem Zeitpunkt gar nicht gemacht, lief es doch Ende des Jahres richtig gut. Als ich am Samstag bei kühlen aber sonnigem Wetter am Start am Marktplatz in Lübbenau stand, war ich mir meiner Sache schon nicht mehr so sicher. Erstaunlich viele hatten eine der niedrigen Startnummern, die den Startern in dieser Sonderwertung vorbehalten waren. Ich machte mich mit André auf den Weg durch das Biosphärenreservat, wir kannten uns von der Berliner Winterlaufserie im Januar. Dort war er vor mir und gewann souverän die M40.
Ich weiß nicht, wie oft wir beide gesagt haben, dass wir “viel zu schnell” sind. Aber irgendwie klappt es mit dem Temporausnehmen nicht so wirklich, wenn man zusammen unterwegs ist. Und so kassierten wir schon bis zur 10km-Marke einige, die noch viel schneller losgelaufen sind als wir. Drei oder vier Brücken über die Kanäle waren bis dahin zu überwinden. Der Rhythmus ist danach erstmal weg. Zu dem Zeitpunkt hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ganz vorne noch zwei Läufer waren, die im Kampf um die Krone ordentlich Druck machten. Nach 10km in 39min! und einem Abstecher auf die Marathonstrecke lies ich André dann ziehen. Die Natur ist sehenswert auf der Runde – der Belag mit den alten Platten aus DDR-Zeiten ist es sicher nicht. Aufgrund der Löcher und Unebenheiten ist oberste Vorsicht geboten. Erst im letzten Drittel der 22km-Runde geht es wieder an den Kanälen entlang – natürlich gespickt mit einigen Brücken. Nachdem ich kurz die Orientierung verliere und mir zurufen lassen muss, wo es dann langgeht, setzt obendrein noch ein Hagelschauer ein. Warm ist anders! Platz 9 (ich) und 10 tauschen kurz vor Schluß noch ihre Plätze. Ich laufe relativ entspannt mit 01:26 in Lübbenau ein und verzichte lieber auf den obligatorischen Endspurt. “Kontrollierte Offensive” würde einer (Otto Rehagel) meinen. Zu dem Zeitpunkt bilde ich mir ein, dass ich nicht alle Kräfte eingesetzt habe und mir zumindest ein paar Körner für den Marathon aufbewahrt habe. Aber sicher bin ich mir überhaupt nicht. Nach dem Halben bin ich auf Platz 4 der Sonderwertung. André ist knapp 2min vor mir, die anderen beiden nochmal schneller mit 01:22 und 01:23. Und auch hinter mir geht es sehr eng zu. Das, was ich schon zum Start geahnt habe, bewahrheitete sich: ein Klassefeld ist dabei, das um Längen besser ist als bei der Premiere der Läuferkrone 2014. Ich fahre im Anschluß nach Lübben, um Britta im Ziel ihrer Radtour zu empfangen.
Die Beine fühlen sich Sonntag früh, am Tag des Marathons in Burg, erstaunlich locker an. Große Nachwirkungen des Halben kann ich nicht entdecken. Oder ist der Wunsch nur Vater des Gedanken? Die Anreise und das Drumherum vor dem Start in Burg sind wesentlich stressbehafteter als in Lübbenau. Der Parkplatz ist weit weg, ein ziemliches Gewusel herrscht im Start-Ziel-Bereich und nur wenige Klos sind vorhanden. Auf das Warmmachen muss ich aus Zeitgründen elegant verzichten. Wenigstens das Wetter spielt super mit: Sonne pur und ein paar Grad wärmer als am Samstag. Alle bekannten Gesichter vom Halbmarathon reihen sich ganz vorne ein, ich stehe mit André zwei Reihen dahinter. Er hat vier Flaschen mit am Gürtel und ich: nichts. Nichtmal ein Gel kann ich aufbieten. Vor lauter Aufregung hatte ich auch noch vergessen, etwas vorher zu trinken. Nun ist es zu spät. Das Rennen läuft, wir kommen gut weg. Die 10km-Läufer verabschieden sich schnell, von da an geht es für die Halbmarathonis und die Marathonis auf die große Runde quer durch den Spreewald. Ich nehme schon am Anfang wirklich jeden Verpflegungspunkt mit, habe ich doch schnell ordentlich Durst. Nur richtig trinken klappt einfach nicht beim Rennen. André schließt nach 7km auf und wir bringen die erste Runde relativ ereignisarm hinter uns. Das gleiche Spiel wie am Samstag: ständig das Gejammere über das Tempo, aber keiner bekommt es auf die Reihe, langsamer zu laufen. “Luxusprobleme” haben wir anscheinend. Aber schon vor km20 merke ich, dass es mit dem Tempo um die 04:10/km nicht mehr lange weiter gehen wird.
Andrés Trainer schaut von nun an öfters mit dem Rad vorbei und gibt erste Tips zur Lage der Marathon-Nation. Kurz hinter der (einzigen) Brücke bei km20 halte ich erstmal an und trinke alles, was ich kriegen kann. Die Lücke ist schnell da, aber mir war es auch nicht ganz unrecht. Ich nahm Tempo raus und versuchte, wenigstens etwas die Kräfte zu schonen. Ich realisierte ja längst, dass es noch verdammt hart werden würde auf der zweiten Runde. Einen Schub bekomme ich, als mir berichtet wird, dass einer der beiden Führenden rausgehen musste. Plötzlich ist sie wieder da, die Chance aufs Podium! Aber ich baue zu schnell ab. Kilometer um die 04:45 bei der 25km-Marke verheißen nichts Gutes für den Rest. War der Lauf gestern doch so kräfteraubend? Ich versuche, ein paar klare Gedanken zu fassen und entscheide mich, das Tempo nicht weiter zu forcieren. Die Angst vor der ersten Gehpause war zu groß. Wenigstens km28 (da war doch was vor 3 Jahren!) überstehe ich noch laufend. Jeder Verpflegungspunkt ist ein Highlight in meinem einsetzenden Marathon-Delyrium. Cola, Iso, Wasser – ich schütte alles in mich rein, was zur Verfügung steht. Fürs Kuchenessen bleibt leider keine Zeit mehr. Ein wenig erinnert das Ganze an den Médoc – nur ohne Alkohol. Oder gabs da etwa auch Bier? Es muss aber noch vor km30 gewesen sein, als ich das erste Mal walke. Erstaunlicherweise nehme ich es fast mit Humor. Was habe ich denn erwartet? Bei einem Marathon wünscht man sich, dass die Schmerzen erst ganz spät kommen. Möglichst kurz vor dem Ziel. Wenn die Zuschauer einen nach vorne klatschen. Wenn der Punkt greifbar nahe ist, an dem man die Uhr anhalten kann. Wenn die Familie einem zujubelt und die Kids sich freuen. Nur bin ich noch weit weg vom Ziel. 12km können unendlich lang sein. Die einzigen Menschen auf und an der Strecke sind die Kanuten, die gelegentlich Beifall klatschen. Und natürlich die Verpflegungspunkte. Meine Rettungsanker im stetig sinkenden Spreewald-Kahn.
Hier nimmt man wohlwollend zur Kenntnis, dass ich gestern schon unterwegs war und die Natur in ihrer Schönheit bestaunt habe. “Du bist schnell unterwegs.” Oh, schön zu hören. Mir kommt es schon lange nicht mehr so vor. “Aber die Konkurrenz vor dir ist noch ein bißchen schneller.” Eine schöne Motivationsspritze! Ich schlürfe weiter durch die Landschaft. Phillip fliegt förmlich an mir vorbei. Es muss schon ein wenig ungleich ausgesehen haben. Kimetto gegen Calmund. Ich habe NICHTS entgegenzusetzen. Da er nachgemeldet hat, realisiere ich zu dem Zeitpunkt nicht komplett, dass er auch die Läuferkrone angeht. Aber ich ahne es bereits. Von Punkt zu Punkt denken. Schritt für Schritt. Laufen wechselt sich mit Gehen ab. Kurioserweise kann ich mich genau an meine Gehpausen von vor drei Jahren erinnern. Und lege jedesmal wieder eine ein. Auch die Strecke hätte ich ohne Probleme ablaufen können, zu gut war sie noch in meinem Kopf drin. Viel tut sich nicht mehr bis km38, wo mich die beiden Herren mit Fernglas und Mikro versuchen zu verorten. Die Nr. 12 finden sie aber nicht auf ihrem Zettel. Bis sie doch noch realisieren, dass ich Wiederholungstäter bin. Sie “peitschen” mich förmlich weiter. Im Hintergrund sagen sie den nächsten Läufer an und ich realisiere sofort, dass der Dietmar, ein direkter Konkurrent, mir im Nacken sitzt. Kurz vor km40 geht er vorbei. Ich muss auch ihn ziehen lassen. Plötzlich taucht Steffen von den Profilläufern auf dem Bike vor mir auf. “Marek – du hier?” Ja ist richtig. Mehr als ein “Na sch… Marathon” kriege ich nicht raus. Entsprach aber voll und ganz der Wahrheit. Dietmar kommt schon von der letzten Wendeschleife zurück und läuft mir entgegen. Wir klatschen uns ab. Groß ist der Respekt trotz aller Konkurrenz. Eine letzte Gehpause genehmige ich mir noch, dann sammele ich alle Kräfte und laufe den letzten Kilometer auf dem sandigen Weg in Richtung Ziel. Es wird eifrig applaudiert und gerufen. Zumindest mein Zieleinlauf hatte noch etwas mit Laufen zu tun. Die Familie herzt mich nach über 3h Wartezeit in der Sonne. Schneller ging es leider nicht. Am Ende wird es in der Gesamtwertung der Läuferkrone der 4. Platz werden. Ralf gewinnt sogar noch den Marathon. André holt souverän Platz 2 mit einem 3h-Marathon und auch Phillip überzeugt mit einem richtig guten Lauf am 2.Tag.
Was bleibt von dem Experiment “Läuferkrone”? Natürlich hätte ich mir einen schnelleren Marathon gewünscht. Aber ich habe alles gegeben und bin deshalb mit dem Wochenende auch zufrieden. Eine silberne und eine goldene Spreewaldgurke bekommen einen Ehrenplatz zuhause. Platz 4 erscheint auf den ersten Blick unglücklich. Nur war der Abstand zu Ralf, André und Phillip zu groß, um darüber enttäuscht zu sein. Die Jungs waren um Längen besser an dem Wochenende und das habe ich zu respektieren. Ich bin dankbar, dass ich mit André einen erfahrenen Läufer an meiner Seite hatte, der das Experiment einfach besser gemeistert hat als ich und von dem ich mir noch Einiges abschauen kann. Nächstes Jahr wieder? Die Frage stellt man sich zwangsläufig, aber eine Antwort muss erstmal ausbleiben. Sobald alles verarbeitet ist, denke ich in Ruhe darüber nach. Eines ist sicher: die Krone wird auch 2016 wieder vergeben.
Was für ein Kraftakt. Der HM war sicher taktisch gut gelaufen, der Marathon eher weniger. Platz 3 war da einfach nicht drin. Trotzdem meinen Respekt für diese Energieleistung. Ich hätte es nach diesem Halbmarathon am Sonntag nicht mal zur Strecke geschafft.
Taktisch habe ich immer Nachholbedarf 🙂 Denke auch, dass der Halbe absolut im Rahmen war. Aber es wäre auch mit einem langsameren Anfangstempo am Sonntag am Ende hart geworden.
Hut ab und ich glaube fast zu wissen das du 2016 wieder an der Startlinie stehst, aber wer weiß das so genau!? Sehr starke Leistung! 😉
Danke Sahra – 2016 ist noch weit weg. Passt das denn in unsere TAR-Vorbereitung :-)?
Was habe ich denn hier am Wochenende verpasst. Meine Güte! Was ein Ding. Was für eine Leistung. Herzlichen Glückwunsch!
Schöne Analyse und Zusammenfassung – musste ich noch anmerken.
Danke Nadin, das kommt davon, wenn man soviel trainiert am Wochenende 🙂
Ja, das mit dem Training nimmt überhand. Da braucht man eigentlich doppelt so lange Tage, um den Rest des Lebens da auch noch rein zu friemeln. Brauche ich dir ja aber sicher nicht zu erzählen. Wenn wir so viel herumlaufen könnten, wie wir wollten…