Es muss irgendwo bei der 65km-Marke gewesen sein, als mich eine ältere Dame völlig entgeistert ansprach: “Wo wollen Sie denn hier noch hin?” Ich konnte nur eine Antwort geben: “Na zum Brocken natürlich!” – “Waaaaaaas, bis ganz hoch???” In dieser Art liefen auch die anderen kurzen Gesprächsfetzen ab, die auf dem langen Weg in Richtung Dach des Harzes des Öfteren vorkamen. Ungläubige Blicke, applaudierende Menschen, anerkennende oder bewundernde Worte, ein mitleidiges Lächeln – einfach alles war dabei. Und der Weg, er war verdammt lang.

Begonnen hatte die 15. Brocken-Challenge schon am Freitag Abend, als Markus, der Mitbegründer dieses 80km langen Ultramarathons von Göttingen auf den Brocken, mit seinen Söhnen im Hörsaal des Sportinstitutes zur Einstimmung auf dem Didgeridoo spielt. Nebenher fliegen Bilder der vorherigen Ausgaben dieses Wohltätigkeitslaufes vorbei, garniert mit motivierenden Zitaten aus der Ultra-Szene. Eine wohlige und stimmungsvolle Szenerie, bei der man schon vom ersten Moment an bemerkt: hier sind Menschen am Werk, die das Herz am rechten Fleck haben. Markus stellt die Spender und Spendenempfänger vor, Hecke erklärt mit einer unglaublichen Gelassenheit die Strecke, man fühlt sich einfach wohl und verschwendet keinen Gedanken daran, dass man diese Challenge nicht meistern kann.

Die Enttäuschung war durchaus vorhanden, als Henrik im Dezember bei der Verlosung der Startplätze leer ausging. Meine erste Reaktion war: dann laufe ich eben auch nicht. Zum Glück habe ich es mir dann doch anders überlegt. Und ich sollte es zu keinem Zeitpunkt an diesem Wochenende bereuen. Heute, einen Tag nach der Challenge, wirkt noch einiges nach und ich muss mich etwas sammeln, um die vielen Gedanken und das Erlebte irgendwie niederzuschreiben. Wo fängt man, wo hört man auf? Eine Chronologie des Laufes wirkt für mich immer zu platt und gibt kaum wieder, welch fantastisches Erlebnis dieser Lauf gewesen ist.

Bild: Michael Mankus

Aber was macht die Brocken-Challenge nun zu so etwas Besonderem? An erster Stelle stehen zweifelsohne die Menschen. Was hier vom veranstaltenden Verein, dem ASFM Göttingen, auf die Beine gestellt wird, ist großartig. Ob es die Strippenzieher im Hintergrund oder die unglaublich hilfsbereiten und zuvorkommenden Menschen an den Verpflegungsständen auf der Strecke sind: jeder leistet hier seinen Beitrag, damit dieser Lauf für jeden einzelnen Teilnehmer zu einem unvergesslichen Erlebnis wird. Aber auch die Läufer tragen dazu bei, dass man sich hier als Newcomer nicht verloren fühlt, sondern weiß: die anderen hier sind genauso bekloppt wie du (und machen das auch freiwillig). Falk, der schon mehrfach bei der BC auf dem Podium stand (davon will er immer nix wissen), nimmt mich schon am Freitag beim Check-In an die Hand und trichtert mir gebetsmühlenartig ein, dass ich mir doch keine Sorgen machen muss und wir quasi einen kurzen Spaziergang da hoch auf den Brocken machen werden. Alles gut. Wir machen das. Wenn ich mir von dieser Gelassenheit doch bloß eine Scheibe abschneiden könnte – mir geht die ordentlich die Pumpe. Wenn man so in die Runde blickt, dann würde man niemals erraten, was diese Leute denn da am nächsten Morgen vorhaben: 80km nonstop von Göttingen auf den Gipfel des Harzes zu rennen.

Dass es kein Kinderschminken wird, weiß natürlich jeder von uns. Als wir dann um kurz nach 6 an den Fackeln vorbei in den Göttinger Wald laufen, ist die Aufregung aber etwas verflogen. Ist ja nur Laufen, das kann ich doch ein wenig?! Bis zum Harzrand bei Barbis, der Marathonmarke, fängt das Rennen gar nicht an. Mein Plan, mit Falk bis dahin halbwegs kontrolliert zusammenzubleiben, zerschlägt sich schon kurz nach dem zweiten VP bei Rollshausen: wir müssen an der Tilly-Eiche im Weg liegende Bäume umkurven. Ohne auf die Uhr zu schauen (dank der ganzen Kletterei), folge ich meinem Vordermann und wir stehen plötzlich ohne Weg im Wald. “Das kann doch nicht stimmen!?” Auch unser Hintermann kennt den Weg nicht. Nach einigem Hin und Her finden wir aber zum Glück wieder auf die Strecke. Nur Falk, der war natürlich über alle Berge. Ich muss mich kurz sammeln und versuche, wieder in den Rhythmus zu kommen. Es fällt schwer.

Die vegane Bratwurst, die ich mir an VP3 bei km31 schnappe, kriege ich kaum runter. Aber ohne Energie komme ich hier heute nicht weit. Das Angebot an tierleidfreien Snacks an den VPs ist für mich schier überwältigend. Riegel, Schokolade, Kuchen, Kekse, Brühe – oft fällt es schwer, sich überhaupt für etwas zu entscheiden, so groß ist die Auswahl. Das habe ich bei einer Laufveranstaltung noch nie so erlebt. Auf dem Weg nach Barbis kommt leider schon mein erster Hänger. Die ersten steileren Rampen muss ich hochgehen und ich quäle mich schon etwas, als ich endlich Barbis erreiche.

“Ab hier ist es Ultra – 42196m” – steht auf dem Schild, als ich Barbis nach der längeren Verschnaufpause wieder verlasse. Ich schaue nicht auf die Uhr, bin aber sicher, dass ich die geplanten 03:30 um einiges verfehlt habe. Warum, kann ich mir nicht so recht erklären. Keine guten Voraussetzungen für den jetzt kommenden “Entsafter I”. Hier geht es langsam und stetig bergauf und zieht einem die Kraft aus dem Körper, daher diese Bezeichnung. Und nun kommt auch der Schnee: beginnend mit einer leichten Schneedecke, die sich im weiteren Verlauf immer weiter füllt und bei ca. km50 komplett geschlossen ist. Ich bin lange allein unterwegs, frage mich immer, warum denn keiner von hinten kommt, so langsam bin ich. Ich hole die Stöcker raus, denke, ich kann mich so besser fortbewegen. Bis zum Jagdkopf bei km53 zieht es sich. Vor dem VP ziehen dann doch einige an mir vorbei. Die Brühe tut jedenfalls mal richtig gut. Erst Tee, dann Cola, die Lebensgeister sind wieder geweckt.

Kurz hinter dem Jagdkopf wechsele ich auf die Spikes. Wie hier manche ohne schnell hochgekommen sind, bleibt mir ein Rätsel: links und rechts ist die Strecke vereist und in der Mitte befindet sich knöcheltiefer Schnee. Damit geht es etwas besser. Dann das nächste Problem: meine Finger vereisen an den Stöckern zusehends. Wenn man nicht am Griff anfasst beim Laufen, ist es bei den Bedingungen zu kalt. Ich muss meine Entscheidung revidieren und verstaue die Dinger wieder im Rucksack. Zum Glück habe ich noch das zweite Paar Handschuhe dabei. Bis Lausebuche bei km63 läuft es dann aber einigermaßen fluffig. Ist auch kein Wunder: hier gehts tatsächlich nochmal runter. Schmerzen – ohne die geht es beim Ultra nicht. Die Frage ist nur, wann sie kommen. Mein rechter Oberschenkel beschwert sich zunehmends. Aber ich denke mir: es geht ja nur noch rauf, da braucht es sowas doch nicht.

Von Lausebuche bis Königskrug geht daher leider wenig: die 5km kann ich kaum laufen, gefühlt zieht das halbe Feld an mir vorbei. Das und auch die Zeit werden aber im Laufe eines solchen Rennens nebensächlich. Schmerzen kommen. Und gehen. Und kommen an einer anderen Stelle wieder. Dafür muss der Kopf bereit sein. Ich schaue mich trotzdem immer wieder um und versuche, den Moment auszukosten: was habe ich nur für ein Glück, hier in dieser schönen Landschaft meiner Leidenschaft mit so vielen anderen nachgehen zu können? Welch wahnsinnige Motivation ist es, zu wissen, dass einem soviele Menschen die Daumen drücken und ganz fest daran glauben, dass man diese Herausforderung meistert? Habe ich noch Zweifel, das Ziel, den Brocken, zu erreichen? Nein, nicht eine Sekunde verschwende ich an diesen Gedanken. Ich laufe da oben durchs Ziel. Punkt.

Bild: Michael Mankus

Hinter Königskrug geht es dann auf die Loipen: links und rechts brausen die Skifahrer herunter, wir ziehen durch die Mitte hoch. Und das läuft sich teilweise richtig fies. Mit einem Kollegen nehme ich nochmal eine falsche Abzweigung (im Nationalpark darf nicht markiert werden), die wir aber schnell korrigieren können. Dann wird es einstellig bei der Kilometerzahl auf der Uhr. Ich mache mir bewußt, dass ich soweit ja noch nie gelaufen bin und freue mich wie ein kleines Kind auf den Gipfel. Es ist ja nicht mehr weit!

Bild: Fam. Matzke

In Oderbrück, dem letzten VP, verwechselt mich Maren mit Henrik. So ist das eben, wenn man einen genauso verrückten Zwillingsbruder hat. “Und jetzt geht es nur noch: naaaaaaaach ooooooooooooooooben!” Diese gute Laune ist unglaublich ansteckend und lässt die Anstrengungen der letzten Stunden vergessen. 370 HM verteilen sich nun auf 7,6km. Laufen, gehen, laufen, gehen. Wer hier noch durchlaufen kann, hört entweder auf den Namen Florian (Reichert) oder hat alles richtig gemacht zuvor. Und irgendwie geht es auch ganz gut voran, zumindest bilde ich mir das ein. Ich kann sogar noch einige einsammeln, bevor es auf den letzten Kilometer der Brockenstraße geht.

Das Zielbanner ist im dichten Nebel kaum zu erkennen, doch mit diesem Team am Ziel kann man auch das nicht verfehlen. Was geht einem durch den Kopf, nachdem die Uhr bei etwas mehr als 9h gestoppt ist? Erleichterung, dass es endlich vorbei ist. Stolz, diese Leistung erbracht zu haben. Enttäuschung über die nicht erreichte Zeit. Vor allem aber große Dankbarkeit, dieses erleben zu dürfen. Mit der Unterstützung von so vielen, ob hier unten oder von ganz weit oben.

“Grenzen gibt es nur im Kopf.” Das steht auf der Rückseite der Medaille und bei dieser, meiner ersten Brocken-Challenge, ist mir erst richtig bewußt geworden, wie sehr das stimmt.