48h sind nun vergangen – Zeit, das Erlebte etwas zu verarbeiten und die vielen Eindrücke vom Sonntag zu sammeln und zu sortieren. Meine eigene Leistung auf diesen 42 Kilometern quer durch Berlin möchte ich gar nicht groß thematisieren. Am Ende gefiel mir das Prädikat “zufrieden” am besten. Ja, ich war zufrieden mit meiner Vorstellung, glücklich war ich ganz sicher nicht damit. Aber das war überhaupt nicht schlimm und stand für mich auch gar nicht so im Vordergrund. Ich nehme viele positive wie negative Erfahrungen mit:
Noch nie wußte ich bei einem Marathon so früh, dass ich das mir gesetzte Ziel nicht erreichen werde.
Natürlich habe ich mir vorher ausgemalt, an die 3h-Grenze heranzulaufen und diese sogar unterbieten zu können. Aber ich quäle mich schon den Anstieg auf der Schillingbrücke hinter dem Strausberger Platz bei km13 so hoch, dass es spätestens hier ‘klick’ macht: wenn du in dem Tempo weiterläufst, wirst du das Ziel hinter dem Brandenburger Tor heute nicht sehen. Die Anfeuerungen von Carl bei km9 und Henrik mit seinen Under Armour-Bandits bei km12 stemmen sich diesem unheilvollen Gedanken noch entgegen, aber ab Kilometer 15 fliegt gefühlt das gesamte Feld an mir vorbei. Dem 3h-Zeitläufer werfe ich nur ein gedankliches “dich wollte ich heute eigentlich nicht mehr sehen” hinterher. Die Quittung für die suboptimale Vorbereitung wird mit großen schwarzen Buchstaben direkt neben mir ausgedruckt und die Papierrolle will partout kein Ende nehmen.
Noch nie haben mich die Zuschauer und Supporter an der Strecke so motiviert weiterzulaufen.
Beim Laufen kämpft man oft für sich allein. Größere Beachtung findet die Leistung und die Anstrengung meist nur innerhalb der Familie oder bei gleichgesinnten Sportlern, die ähnlich verrückt sind und an einem Sonntag um 8 im Startbereich einer Laufveranstaltung herumlungern. Beim Berlin-Marathon ändert sich dies schlagartig. Man hat das Gefühl, die ganze Stadt ist seit der Frühe auf den Beinen und will alle Teilnehmer dieses Marathons förmlich ins Ziel schreien und jedem einzelnen von ihnen ein Denkmal auf den Asphalt betonieren. Die Spreeganer Support-Crew hat sich eine unglaubliche Mühe gemacht und wahre Kunstwerke gezaubert, nur um sich den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen und jeden einzelnen von uns anzufeuern. Man denkt gar nicht, wieviel Motivation und Kraft solch ein Moment bringen kann. Nein, man kämpft nicht allein für sich, es sind so viele Menschen, die mit einem mitfiebern und anerkennen, was man denn da durchlebt, ob zu Hause oder eben an der Strecke.
Noch nie habe ich einen Marathon so intensiv erlebt.
Es sind die ganz bestimmten Momente, die für immer im Gedächtnis hängenbleiben. Da sind die letzten Minuten vor dem Start. Der Countdown ertönt, die wärmenden Folien fliegen über das Geländer, die Leute fangen an zu schreien und zu tippeln. Ich schließe die Augen und fokussiere mich auf das, was da jetzt kommt. Vieles fliegt am geistigen Auge vorbei. Ich denke an meine Familie und motiviere mich ein letztes Mal. Was jetzt passieren wird, steht in den Sternen. Nach dem Überqueren der Linie geht es schlagartig in den Wettkampf-Modus. Das Rennen beginnt.
Spätestens bei der Halbmarathon-Marke ist das Verlangen groß, mich in eine ruhige Ecke zu setzen, mitleidig rumzujammern und einfach die Geschichte für heute ruhen zu lassen. Es ist ja eh nix mehr zu holen, im Gegenteil: es kann noch sehr viel schlimmer kommen. Ich komme mir vor, als wenn ich stehe und alle mit 20km/h über mich drüberlaufen. Was motiviert einen in den Momenten, doch weiterzulaufen? Vielleicht war es die frühe Einsicht über die große Kluft zwischen Wunsch und Realität an diesem Sonntag? Was sollte schon passieren? Sicher, die Zeit war bereits in den Skat gedrückt. Aber ich wußte auch von den vergangenen Teilnahmen, dass auf dem zweiten Streckenabschnitt die Berliner erst richtig Party machen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ein Grinsen konnte ich mir oft nicht verkneifen ob der unzähligen Transparente, Schreie, dem Geklatsche und der Musik am Streckenrand.
Auch wenn es mal länger dauert: irgendwann kommt auch bei einem Marathon das Ziel. Spätestens beim Abbiegen von der Leipziger Straße bei km40 ist es gedanklich erreicht. Ich versuche jeden, der hier geht, nochmal zu ermuntern, doch weiterzulaufen. Wußte ich doch aus eigener Erfahrung sehr genau, wie es manchem hier gerade ergeht. Die Support-Crew um Caro und Leni erblickt mich und brüllt mich nochmal nach vorne. Der finale Schlenker auf die Zielgerade, das Durchlaufen des Brandenburger Tores, die letzten 200m bis zum Ziel. Ich nehme endgültig den Druck raus (war da vorher noch einer?), die Zeit ist nebensächlich. Ob 03:05, 03:10, 03:15, das spielt heute keine Rolle mehr. Das Kopfkino setzt schlagartig wieder ein. Ohne die Unterstützung der Lieben könnte ich das hier und jetzt nicht so erleben. Ich freue mich, applaudiere und will ganz Berlin umarmen, als ich die Matte überquere.
Im Zielbereich treffe ich bekannte Gesichter, die Bestzeiten fallen reihenweise, ich gönne es jedem einzelnen. Auf der Wiese vor dem Reichstag nehme ich mir bewußt nochmal 10min Zeit und lasse den Tag an mir vorbeiziehen. Ich bin dankbar, dass ich diesen Tag erleben durfte. Und ich weiß, dass jeder einzelne Meter dieses Berlin-Marathons mich weiter gebracht hat. Wohin, das wird die Zukunft zeigen (lesen könnt ihr das hier!).
Toller Bericht!
Es geht eben nicht immer nur um die Zeit oder Platzierung sondern auch um das Erlebnis! Und das hast du genießen können
Danke Markus, oh ja, vielleicht nicht die ganze Zeit, aber einige Momente habe ich wirklich genossen. Hoffentlich bald wieder!
Ach Marathon kann auch schön sein, wenn man mal nicht ganz so schnell ist.
Ein faszinierender Bericht.
Danke
Danke Jörg! Seien wir mal ehrlich: wenn man einen Marathon am Anschlag läuft, hält sich der Spaß eindeutig in Grenzen. Gerade wenn es nicht auf die Sekunden ankommt, hat man den Blick auf die vielen Dinge, die an der Strecke passieren. Erst das macht das Erlebnis Marathon wirklich komplett.
“Man hat das Gefühl, die ganze Stadt ist seit der Frühe auf den Beinen und will alle Teilnehmer dieses Marathons förmlich ins Ziel schreien und jedem einzelnen von ihnen ein Denkmal auf den Asphalt betonieren.”
Das hast du so schön gesagt und es ist wirklich wahr. Alleine wegen der Zuschauer möchte man weiter laufen…schließlich sind sie extra für einen gekommen:-)
Genau Judith, das muss man sich einfach immer vorstellen: die sind alle nur für uns so früh aufgestanden und brüllen sich die Seele aus dem Leib. In dieser Hinsicht ist Berlin einfach unglaublich.
Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen. BERLIN ROCKT. Danke für diesen emotionalen Bericht.
Im nächsten Jahr dann als Regenerationslauf vom TAR 🙂
Ganz ganz wundervoller Bericht. Es rührt mich, wie emotional so etwas ist. Auch vom Support ist es immer wieder ein Aufschrei im Herzen wenn man seine Leute erblickt. Dann kämpft man sogar um jedes Wort, denn man will unterstützen und das richtige Wort zum anfeuern finden, denn es ist doch eine wahnsinnig starke Leistung was du und die anderen hier abgeliefert habt. Danke dir für den schönen Bericht.
Freut mich sehr, wenn du dich da wiederfindest, Caro! Man kann gar nicht oft genug betonen, dass sowas ohne Unterstützung gar nicht möglich wäre. Danke für Euren Beitrag zu diesem Mega-Event!
Ich bin nicht nur beim Laufen wesentlich langsamer als du, auch beim Kommentieren hinke ich tagelang hinterher, sorry! Ein sehr schöner Bericht und eine – seien wir mal ehrlich – absolut gute Zielzeit. Dass du bei optimaler Vorbereitung noch schneller kannst, und auch die Sub3 möglich ist, steht außer Frage. Nächstes Mal!
Genau Andreas, nächster Marathon, nächster Versuch! Ist irgendwie nicht mein Marathon-Jahr: 03:09, 03:11, 03:10. Aber immerhin bin ich schadlos durchgekommen, das sah bei dir ja leider anders aus. Hartmut hatte ich übrigens danach noch kurz getroffen – er war (wie immer) nicht zufrieden 🙂 2016 greifen wir wieder an.