Als ich wenige Minuten vor Mitternacht um die Zieleinlaufkurve zur Expomeloneras bog -laufen konnte man das nicht mehr nennen- waren fast 25 Stunden seit dem Start am anderen Ende der Insel vergangen. Auf keinen Fall wollte ich in die zweite Nacht laufen. Aber wie das bei einer so langen Strecke ist, der Plan ist ab einem bestimmten Punkt obsolet. Bei mir war das ziemlich genau bei Km 100, als der letzte größere Abstieg nach Ayagaures begann und bei jedem Schritt ein Stechen durch den rechten Knöchel ging. Die Sonne tauchte in dieser Stunde ab und ich musste akzeptieren, nun 25 lange Kilometer zu gehen. Um irgendwie noch ins Ziel zu kommen. Dabei lief es nur wenige Kilometer vorher noch traumhaft. Den letzten echten Anstieg hinter Tunte konnte ich sogar noch abschnittsweise hochlaufen und dabei locker 30 Plätze gutmachen. Doch unter dem Strich war ich leider zu spät dran, um der Dunkelheit noch davonlaufen zu können. Innerhalb von 10 Minuten knipste jemand das Licht aus und versetzte meinen Körper in den Schlafmodus.

Der Optimismus war groß: das Training lief wie geplant, die Form schien genau zum richtigen Zeitpunkt auf dem Höhepunkt zu sein. Das Wetter machte nicht nur dem Veranstalter etwas Sorge, aber pünktlich zum Start verzogen sich die Regenwolken über dem Norden der Insel. Es war vermessen, sich überhaupt ein Zeitziel vorzunehmen angesichts dessen, dass ich noch nie so weit gelaufen war. Mit Andreas, Senior Masters Men-Zweitplatzierter beim Transalpine-Run 2016, fuhr ich zusammen im Bus nach Agaete, das gab mir noch etwas Sicherheit. Er hatte den TGC schon mehrfach gelaufen und kannte alle kritischen Passagen. Die Stimmung war blendend, das ganze Dorf war auf den Beinen und schrie die Meute los. Auf in die Schlacht!

Genau ein Kilometer wird auf der Straße gelaufen, dann geht es 1.230 Höhenmeter hoch. Die Beine sind noch frisch, alles kein Problem. Den ersten Checkpoint bei Km 9,8 erreiche ich nach 100 Minuten deutlich vor der geplanten Zeit von zwei Stunden. Es ist zwar kalt und windig da oben, aber es regnet nicht. Es darf wieder gelaufen werden, ein paar schöne Waldwege lockern die Beine wieder auf.  Bis zur 20 Km-Marke ist es ganz gut laufbar, auch der Abstieg ist nicht zu steil. Ich bleibe aber vorsichtig und winke immer wieder Läufer vorbei. So richtig traue ich dem Braten nicht. Mit beiden Lampen (LED LENSER SEO und Kalenji Runlight) leuchte ich mir den Weg, trotzdem fühle ich mich auf den Abstiegen nie so 100%ig trittfest. Nach dem Abseilen am Wasserfall(!) ging es auf den zweiten Anstieg. Der war nicht mehr ganz so locker wie der erste. Ich versuchte mich, ständig zu konzentrieren und keinen falschen Schritt zu setzen. Wann wird es endlich hell? Bis Artenara waren 33,6 Km zu absolvieren. Als ich dort in die warme Halle einlief, war ich ziemlich platt und auch der Akku der Stirnlampe war bereits alle. Ich pausierte etwa 15 Minuten, aß Pasta und legte die Ersatzbatterien in die Lampe.

Bis zum ersten Meilenstein nach Fontanales war es nicht mehr weit. Allerdings folgte auch das einzige mir unbekannte Streckenstück. Vor allem die matschigen Downhills bereiteten mir große Schwierigkeiten. Die Pampe klebte unter dem Schuh. Ein Wunder, dass ich mich nicht ein einziges Mal hingelegt habe. Der Abstieg nach Fontanales war haarsträubend, aber ich hörte schon den Lärm des Moderators, der die Advanced-Läufer in den nächsten Minuten auf die Strecke schickte. Um Punkt 07:00 Uhr stand ich vor dem Hang und musste die etwa 500 Starter des 82 Km-Laufs passieren lassen. Ich war noch gut in der Zeit, auch wenn ich auf 7,5h spekuliert hatte. Ein etwa ein Kilometer langer Umweg hinter Artenara hatte es nicht besser gemacht: da lief eine Gruppe schön die Straße runter und ich hinterher. Und niemandem fällt die fehlende Markierung auf.

Nun wurde es hell und nach der Stärkung am Verpflegungspunkt (mal wieder Orangen) ging ich auf die mir bekannte Strecke. Leider setzte sich der Matsch fort und wir trafen auf die ganz langsamen Advanced-Teilnehmer. An die Downhill-Pace vom letzten Jahr war nicht zu denken. Nach Valleseco ging es wieder heftig hoch, um dann nach Teror runterzufliegen. War ich erleichtert, dort zum ersten Mal auf meine Crew zu treffen. Immerhin standen schon 56 Kilometer auf dem Tacho. Auch Mario und Martin traf ich hier, die gemeinsam auf der Advanced-Strecke unterwegs waren.

Nun warteten die “Treppen von Teror” auf mich – der Beginn eines 10 Km langen Anstiegs mit etwa 1.000 Höhenmetern zum Cruz de Tejeda. Auch hier hat mich vor allem der Matsch genervt, der bei jedem Schritt zusätzlich Kraft kostete. Die Stöcke waren Gold wert. Es war ein sehr harter Abschnitt, bei dem man nicht die Geduld verlieren darf. Immer wenn ich geglaubt hatte, das muss der letzte Hügel sein, tauchte der nächste am Horizont auf. Nach einer Ewigkeit tauchte endlich die Straße zum Cruz de Tejeda auf. Vorbei am traurigsten Esel der Welt, der seit Jahren dort oben für dusselige Touristen herhalten muss, passierte ich den Checkpoint nach etwas mehr als 13 Stunden. Noch war alles möglich, eine Zielzeit von 22 Stunden schien mir realistisch. Zumal nun ein toller Downhill nach Tejeda folgte. Der Weg wurde zunehmend trockener und hinter den Wolken konnte ich zum ersten Mal die Sonne sehen. Es flutschte richtig gut runter bis Tejeda. Conny und Gregor warteten mit meinen Wechselsachen am VP. Regenjacke und Mütze wurden gegen Shirt und Cap getauscht. Auch Schuhe und Socken wurden gewechselt. Ich fühlte mich schon etwas müde, aber insgesamt noch gut beisammen. Auf zum Roque Nublo!

Der Zwischenanstieg bereitete mir noch keine Probleme, aber hoch zum Wolkenfels musste ich so einige Pausen einlegen. Keine Wolke oben – es war angerichtet für die Läufer. Irgendwann war ich dann endlich an der Pendelstrecke und kletterte auf das Plateau, wo die Orgacrew mit dem Handlesegerät wartete. Ein ganzes Stück muss man dann wieder zurück und auf der anderen Seite runter. Die Fußsohlen brannten schon jetzt ziemlich heftig. Ich blieb vorsichtig, aber immer in wehmütiger Erinnerung, wie ich hier vor einem Jahr runtergefegt war. Die Crew überraschte mich am Parkplatz und motivierte mich für die letzten Meter bis Garanon. Ein psychologisch extrem wichtiger Meilenstein, denn von dort aus ist es nur noch ein Marathon. Und es war richtig hart. Die 50 Meter Höhenunterschied bis zum erlösenden Campingplatz forderten nochmal alles.

Etwa 25 Minuten investierte ich am Verpflegungspunkt. Stärkte mich mit Pasta und Kartoffeln, füllte nochmal die Blase mit Iso auf und saß einfach nur ein paar Minuten rum. Das letzte Drittel des Rennens brach nun an. Ich schleppte mich auf die Reise. Das Einkuppeln fiel immer schwerer, an Laufabschnitte von mehr als 5 Minuten war nicht mehr zu denken. Der steile Aufstieg zum höchten Punkt der Strecke mit dem Pico de las Nieves war brutal, aber nicht ganz so schlimm wie erwartet. Hier kämpfte jede/r einen Kampf mit sich selbst. Nach 17 Stunden und 10 Minuten passierte ich die Zeitbake auf 1.930 m Höhe. Den Marathon habe ich vor drei Jahren in unter 5h gelaufen – völlig utopisch. Ich versuchte in einen Rhythmus zu kommen, so richtig wollte das nicht gelingen. Es ist ein irres Streckenstück mit betörenden Aussichten. Ich kam mit abwechselndem Gehen und Laufen bis zur GC60 an der Cueva Grande ganz gut voran. Tunte war nun nur noch 6 Km entfernt. Hier wurde ich wieder mal durchgereicht – ich bewunderte die Läufer, die auf dem technischen Abschnitt vorbeiflogen. Überhaupt, hin und her ging es, so manchen Läufer habe ich 10x überholt.

In Tunte traf ich meine Crew zum letzten Mal. Die beiden sahen langsam ähnlich müde aus. Kein Wunder, waren sie auch schon seit 6 Uhr unterwegs. Die Stimmung am VP war blendend und ich war weiterhin gut beisammen. Aber es war bereits kurz vor 18 Uhr und 19 Stunden standen auf der Uhr. Die Sonne tauchte so langsam ab und ich machte mich schnell weiter, um noch so viel Tageslicht wie möglich mitzunehmen und vielleicht sogar bis Einbruch der Dunkelheit in Ayagaures zu sein. Den letzten größeren Anstieg von etwa 400 Höhenmetern flog ich förmlich hoch, überholte 30 Läufer und hatte ein regelrechtes Runners High. Konditionell konnte ich immer noch laufen, auch die Waden waren weit entfernt von Krämpfen. Die Uhr stellte auf 100 Km um -ein Bild, das ich nicht so richtig greifen konnte- und ich verspürte diesen stechenden Schmerz im Fußgelenk. Mir gelang im Walken noch das Foto von der abtauchenden Sonne und dann begann das Drama.

Es war schlagartig zappenduster und ich merkte schnell, dass ich mich für die falsche Lampe entschieden hatte. Vielleicht war es auch die bleiernde Müdigkeit, die jetzt von mir Besitz nahm. Ziemlich überrascht von diesem Tief stolperte ich den Berg runter und sah nur noch schwammig. Überhaupt, wo blieb dieses verdammte Nest Ayagaures? Ich kann mich noch erinnern, dass sehr viel Hundegebell darauf hindeutete, dass der vorletzte VP näher kam. Gute 2h 20min brauchte ich bis dahin. Ein Abschnitt, den ich im Training schon in 90 Minuten gelaufen bin. Aber wen interessierte das jetzt. Ich war fest entschlossen, nun bis zum Ende zu walken. Am VP gab es Paella und Brühe, von dem viel zu schnellen Essen wurde mir schlecht und ich fror. Die Dame fragte mich mitleidig, was sie für mich tun könnte. Ich saß etwa fünf Minuten und hätte mich gerne im Selbstmitleid ertränkt. Hochgerechnet bedeuteten 20 Km Gehen bis ins Ziel nochmal VIER lange Stunden. Ich raffte mich irgendwie auf, um nicht im Sitzen einzuschlafen.

In Schlangenlinien waberte ich die 200 Höhenmeter hoch, das war viel angenehmer als Runtergehen. Mehrmals fragten mich überholende Läufer, ob alles in Ordnung sei. Was soll man sagen? Nichts war in Ordnung, aber wem hilft diese Information? Nach 5 Km landet man im gefühlten Steinbruch. Mehrmals lief ich noch an, aber der Fuß sagte sehr deutlich NO. Im Tageslicht ist dieser Abschnitt schon eine Prüfung. Nachts und dazu gefühlt besoffen verkommt der Barranco zum Finale furioso. Und nein, trotz hunderter Stolperer, ich fiel nicht. Vielleicht hat mich das irgendwie am Leben erhalten. 6 Km vor dem Ziel verlässt man das Tal, von dem man irgendwann glaubt, es würde niemals enden. Die Lichter von Playa del Inglès zeigen sich, es geht unter der Autobahn durch. Und tatsächlich im Gehen überhole ich noch zwei Läufer. Das Rennen hat Zeitlupengeschwindigkeit erreicht, das ganze Gehetze in den ersten Stunden wirkt so lächerlich. In Parque Sur gehe ich direkt durch das Zelt, die Treppen hoch und runter in das Flussbett knallen nochmal richtig. Und zwei Kilometer vor dem Ziel beiße ich auf die Zähne und LAUFE. Um wenigstens noch vor Mitternacht anzukommen. -“Wenn du es ins Ziel bringst, dann musst du es nicht nochmal machen.”- Plötzlich sind die Schmerzen keine mehr, sogar eine kleine Gruppe von Läufern lasse ich noch stehen. Nach unfassbaren 25 Stunden IST ES PLÖTZLICH VORBEI.

So richtig freuen kann ich mich nicht, es arbeitet im Kopf. Dass es zum Ende hin so hart wird, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich konnte im Anschluss nichts essen oder trinken, der Körper war seit Stunden im Überlebensmodus. Geduscht habe ich wohl im Sitzen und auch dabei bin ich mehrmals eingeschlafen. Ein verdammt langer Tag war das.

In Zahlen:

  • 10 Gels (Xenofit und High5)
  • 2 Riegel (Cliff)
  • 3x Pasta, 1x Paella
  • 5l Wasser, 3l Iso, 5l Cola
  • 5x Getränkewegbringen
  • 2 Paar Schuhe (Saucony Peregrine 5 und 6) und Socken
  • 2 Stunden Aufladen der Uhr (Suunto Ambit 3 Peak) im Betrieb
  • 3x Verlaufen (in der Nacht)
  • ~8.000 positive Höhenmeter
  • Platz 290 von 524
  • Nettozeit 24:53:56h