Die 100 Meilen von Berlin – unser Mauerweglauf

Es ist nicht ganz einfach, die vielen Eindrücke, Momente, Erinnerungen und Begegnungen dieses Wochenendes in Worte zu fassen. Dass es keine ganz einfache Geschichte werden würde, war uns beiden vorher sehr wohl bewußt. Dass aber am Ende eine fast 24h-dauernde Geschichte steht, an die wir uns bestimmt immer erinnern werden – das hätte keiner von uns für möglich gehalten. Schlagen wir also die Kapitel dieser Geschichte auf, der Geschichte unseres ersten Rennens über 100 Meilen und so unendlich Vielem mehr.

Vorher müssen wir aber noch eines loswerden. Für den wahnsinnigen Support an der Strecke oder auf den Social Media Kanälen dieser Welt sind wir sehr dankbar. Dass wir beide am Sonntagmorgen die Ziellinie im Jahnsportpark überquert haben, haben wir dieser grandiosen Unterstützung zu verdanken, wo jeder alles Menschenmögliche in die Wagschaale geworfen hat, um uns da hinzubringen. Unser größter Dank geht an meine Frau Britta, die mehr als 100km auf dem Begleitfahrrad zugebracht hat und uns immer wieder motiviert, verpflegt und zugeredet hat. Alle anderen Supporter werden (hoffentlich) in unserer Geschichte auch erwähnt. IHR WARD GROßARTIG ALLE ZUSAMMEN!

Vorgeplänkel und Startnummern-Chaos

Der Start ins Wochenende war schonmal völlig in den Sand gesetzt. Ich hing mitsamt Familie am Freitag auf der Urlaubsrückreise den ganzen Tag auf der Autobahn fest, so dass ich es nicht rechtzeitig nach Berlin geschafft habe. Erinnerungen an das Chaos vor 2 Jahren kamen wieder hoch, wo ich bei der Startnummernausgabe den Transponder für die Zeitnahme vergessen hatte. Henrik rauschte erst um halb sieben mit dem Zug am Hauptbahnhof rein, konnte uns aber glücklicherweise die Startnummern besorgen, ohne die der Lauf schon am Freitag Geschichte gewesen wäre. Das erste Drama (mein ärztliches Attest lag auch noch daheim und wurde von Brittas Schwester abfotografiert!) war damit überstanden. Viel Zeit blieb nicht mehr, um die Dropbags zu packen, die Ausrüstung und Verpflegung bereitzulegen, das Begleitfahrrad fertigzumachen, schnell noch etwas zu essen, die Technik aufzuladen und wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen. Nach 4h war die Nacht dann auch schon vorbei und wir rauschten gegen halb 5 los in Richtung Prenzlauer Berg. Dass wir im Anschluß satte 29h auf den Beinen sein werden, hätte niemand von uns auch nur ansatzweise geahnt.

Unser Dirk Nanni

Das herrliche Get-Together mit vielen bekannten Gesichtern vor dem Start vertreibt etwas die Nervosität. Alle waren sie gekommen und wir waren froh über jeden Einzelnen, der uns mit guten Wünschen auf die Strecke schickte. Als wir um Punkt 6 Uhr die Runde im Cantian-Stadion drehten und uns auf den Mauerweg begaben, waren wir bester Dinge, dass wir auch diese Ziellinie überlaufen werden. Was sollte schon schiefgehen? Klar, keiner von uns beiden hat jemals eine solche Strecke gelaufen, aber zumindest mein Training gab mir viel Selbstvertrauen. Henrik dagegen wollte mit mentaler Stärke, einiges mehr an Ultra-Erfahrung, aber etwas weniger Trainingsaufwand das Ding nach Hause bringen. Vielleicht braucht es einfach diese gewisse Naivität, um überhaupt solch ein Rennen in Angriff zu nehmen. Dass es sehr wohl naiv war, sollten wir im Laufe des Tages noch des Öfteren zu verspüren bekommen.

Im Folgenden sind die Eindrücke von Marek, Henrik und Britta wiedergegeben, jeder mit seiner Sicht auf die Begebenheiten an diesem 11. und 12. August 2018. Seid nicht böse, wenn es ein klein wenig länger geworden ist – aber der Tag war auch verdammt lang!

mit Robert, unserem gehörlosen Ultra-Läufer

Vom Start bis nach Teltow (km59)

Offizielle Radbegleitung war erst ab dem ersten Wechselpunkt in Teltow bei km59 erlaubt. Also planten wir, dass Britta samt Fahrrad uns dort gegen 12 Uhr entgegennimmt. Und auch wenn wir es unbedingt vermeiden wollten: natürlich waren wir zu schnell unterwegs. An einigen roten Ampeln mussten wir in der Stadt noch anhalten, ließen uns aber von einer kleinen Gruppe vorne mitziehen. Die erste Frau setzte sich dann vor uns und wir “verfolgten” sie noch relativ lange, bis wir sie bei km40 aus dem Blick verloren. Ein bewegender Moment war das Innehalten am Gedenkstein von Jörg bei km18. Spielzeug und Kuscheltiere warteten darauf, an den Stein gelegt zu werden. Jörg wurde mit nur 10 Jahren 1966 im Grenzgebiet von DDR-Grenzern erschossen, weil er zu seinem Vater wollte. “Und heute laufen wir hier lang und müssen nicht fürchten, dass auf uns geschossen wird” (Henrik).

Der Mauerweglauf ist ein Gedenklauf. Das Privileg, heute in Freiheit zu leben und diese Strecke gefahrlos laufen zu können, mussten zu viele Menschen teuer bezahlen. Mit einem fetten Kloß im Hals bogen wir auf den breiten Mauerweg ein und machten uns über die Ostkrone an der Autobahn vorbei auf den Weg Richtung Süden. In Adlershof läuft Andreas auf uns auf, gemeinsam geht es dann über den Marienfelder Dörferblick (ein schöner Anstieg, den wir blöderweise auch gelaufen sind) bis zur Marathonmarke. An VP6 steht Helmut mit seiner Kamera und filmt fleißig (der Stoff wird sicher nachgeliefert).

Die Beine werden aber langsam schwerer und Henrik merkt zunehmend seine harten Waden. Ich versuche immer wieder, etwas Tempo rauszunehmen, da wir sonst auch zu früh in Teltow ankommen würden, aber es gelingt nur teilweise. Wir treffen Maty und Ulf, die uns begeistert anfeuern.

Bild: Maty Dudek

Uta Pippig fliegt an uns mit ihrer Staffel vorbei (“chase up, guys!”). Auch kurz vor dem VP dreht Henrik nochmal an der Temposchraube und heizt förmlich herein, sodass Britta tatsächlich nur 5min vorher dort einchecken konnte. Hier lassen wir uns aber erstmals richtig Zeit, sind aber etwas enttäuscht über das Essensangebot. Dieses Jahr wurde die Verpflegung komplett vereinheitlicht, so dass es an jedem VP fast das Gleiche gab. Leider kaum warmen Speisen in Form von Suppe oder Brühe. In der Halle ist es richtig heiß. Dann geht es raus in die Mittagssonne und Britta wirft Helene Fischer ein, es geht nun gemeinsam auf die nächsten 30km bis zum Wechselpunkt bei Schloß Sacrow in Potsdam!

Geplant war es, so lange wie möglich zusammenzubleiben, damit wir uns so geht es geht gegenseitig helfen können. Hinter Teltow mussten wir uns aber erstmals trennen, so dass jeder von nun an selbst seine Eindrücke berichtet.

Marek: von Teltow (km59) bis Sacrow (km91)

bestes Team ever!

Das Gejammere nimmt zu. Henrik läßt hinter Teltow erstmals abreißen und ich laufe locker weiter, schicke Britta aber zu ihm, damit sie die Lage ausloten kann. Ihm ist etwas übel und er meinte auch schon vor dem Wechselpunkt, dass in Sacrow (km91) für ihn Feierabend sein wird. Ich glaube ihm natürlich kein Wort und widerspreche energisch. Auf dem VP10 am Königsweg warte ich auf ihn, seine Meinung hat sich jedoch manifestiert – Ausstieg in Sacrow. Ich sage Britta, dass ich erstmal alleine weiterlaufe und sie ihm doch bitte gut zureden soll, dass er es sich noch anders überlegt. Die 5km Waldpassage auf dem Königsweg sind angenehm zu laufen, da die Sonne hier noch nicht durchkommt. Ich treffe Gerald, der sehr fix unterwegs ist und wir schnacken ein wenig, bevor er von dannen zieht. Als es aus dem Wald rausgeht zum VP11 an der Gedenkstätte Griebnitzsee, wartet Martin auf mich und motiviert mich mit Seifenblasen! Der Wind ist leider etwas zu stark dafür, trotzdem eine schöne Geste, über die ich mich sehr freue.

Am VP brennt die Sonne richtig, würde es doch noch zu warm werden? Als ich wieder rauslaufe, kommt Henrik gerade rein. Er macht keinen Hehl aus seiner weiteren Planung und will immernoch in Sacrow raus, der Gesichtsausdruck spricht Bände. Ich trabe mit Britta wieder los. Jetzt wird es richtig heiß und die Sonne macht mir wirklich zu schaffen. Ich schleppe mich durch die hübsche Villengegend am Griebnitzsee, als plötzlich Erik vor mir steht. Er wollte ja ein Stück mitlaufen, an der Ecke hatte ich nicht mit ihm gerechnet. Umso besser, ging es mir doch gerade recht bescheiden! Britta weiß um meine neue Begleitung und fährt wieder zu Henrik zurück, während ich mit Erik über die Glienicker Brücke laufe und wir uns auf den schönen Uferweg begeben.

Ich komme tatsächlich wieder ein wenig besser ins Rollen, die schattigen Passagen helfen enorm. VP12 (km79) und VP13 (km85) nehmen wir gemeinsam mit und die Kilometer verfliegen wieder schneller. Nur wenige Läufer treffen wir, in Krampnitz trinke ich wieder Iso, nehme kurz Platz und wir ziehen im Anschluß die kleinen Anstiege vor Sacrow gemeinsam hoch, bevor sich Erik verabschiedet.

Das lief doch großartig? Ich überhole Gerald wieder, ohne zu wissen, dass er in Sacrow rausgeht und am selben Abend nochmals Vater wird. Was kenne ich nur für Leute?

Die letzte Passage mit dem Schloßpark habe ich noch von Henriks Berichten aus 2016 in Erinnerung. Es zieht sich ordentlich, aber ich bleibe weiter auf dem Gaspedal. Im Nachhinein vielleicht keine gute Entscheidung. Den VP erreiche ich dann um Viertel nach 3. Schneller als Henrik vor 2 Jahren. Das motiviert mich. Erstmal hinsetzen und alle herzeln, Dirk, Olli, Amrei, Stefan, alle sind sie da und zeigen sich begeistert vom bisherigen Rennverlauf. Drei Iso kippe ich mir rein. Ohne zu wissen, dass genau das gleich mein Stöpselzieher werden wird. Vom Klo runter, gehe ich mit die Warnweste aus dem DropBag in der Hand auf die Strecke, weil Britta ja noch bei Henrik war. 71km – das war ich vor 2 Jahren doch auch gelaufen. Warum heute nicht einfach etwas langsamer nachmachen? Es sollte anders kommen…

Henrik: von Teltow (km59) bis Sacrow (km91)

Allein das Anlaufen nach dem Wechselpunkt tat schon sehr weh. Kein Wunder angesichts der Horror-Pace der ersten 60 Kilometer. Schon ab Km30 merkte ich meine Waden und die Achillessehnen heftig und ärgerte mich, keine Kompressionssocken oder Calfes angezogen zu haben. Aber vor zwei Jahren ging hier an der Stelle auch nicht viel, das machte mir zumindest etwas Mut. Ich musste mich “nur” bis zu diesem Königsweg ab der A111 durchschlagen, das ist ein schöner, leicht abfallender Waldweg. Die Gehpausen mehrten sich. Ich hatte Marek und Britta losgeschickt, weil mir klar war, dass er viel stärker als ich war und ich sowieso spätestens bei Km 91 aussteigen wollte, denn:

IN SACROW IST SCHLUSS.

Auch diese 91 Km wären schon eine größenwahnsinnige Strecke angesichts meines dünnen Trainings der vergangenen Wochen. Die Sonne kam raus und ich wurde etwas wehleidig, aber wieder ein Argument mehr für meine FELSENFEST stehende Rennplanung. Ich lavierte mich bis zur Autobahnbrücke durch und da stand Britta schon wieder mit dem Bike. Sie half mir mit Iso und redete gut zu, nur ich wollte das so gar nicht hören, was sie an Nachrichten von Marek mitbrachte. IN SACROW IST SCHLUSS. Und ich schickte Britta wieder zu Marek.

Wie auch 2016 war die 70 Km-Marke erleichternd, zumindest streckenweise lief ich zügig auf die Meierei zu. Marek und Britta kamen gerade hoch, ich bog ein und setzte mich. Es war mir jetzt zu warm und meine Waden hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch als Krupp-Stahl verkaufen können. In Potsdams Virchowstraße kann man schöne Villen anschauen, aber laufen? Nö. Auf der Glienicker Brücke schnell ein paar Fotos gemacht und im Walk & Run-Tempo ging es auf den Uferweg. Und da stand plötzlich die Britta wieder. Marek wäre versorgt mit Begleitung und sie könne jetzt bei mir fahren. Schön, dachte ich, die letzten 15 Km habe ich noch Begleitung, denn ihr wisst ja: IN SACROW IST SCHLUSS. Komischerweise dachte ich ständig daran, WIE man denn aussteigt. Wo gibt man seinen Chip ab, muss man auch die Startnummer abmachen? Das dritte DNF ever, na und wenn schon, aber… was aber? Es arbeitete in mir.

Dann beging ich den entscheidenden Fehler und erzählte Britta von meinen Waden. Sie habe doch tatsächlich CEP Kompressionsstrümpfe dabei. Und zack, einen VP vor Sacrow schlüpfte ich hinein und sofort fühlte sich die Angelegenheit so viel besser an. Die 6 Km bis Sacrow konnte ich wieder durchlaufen. Jetzt noch die Schuhe aus dem Dropbag tauschen und… Am VP wurde ich herzlich von Dirk empfangen, der uns vor zwei Jahren 100 Meilen lang auf dem Rad begleitet hatte. Ich wollte mir noch etwas Warmes zu essen gönnen – aber leider gab es nur das Übliche. Ich walkte wieder los.

Hatte irgendjemand behauptet, dass in Sacrow Schluss wäre?

Marek: von Sacrow (km91) bis Oberhavel (km128)

Als ich nach 9,5h Stunden in Sacrow losgehe, ahne ich nicht, dass ich nochmal weitere 14h! benötigen werde, bis ich die Ziellinie im Jahnsportpark überqueren würde. Es ist nicht ganz trivial, die Chronologie der folgenden Begebenheiten wieder zusammenzubringen.

Ich gehe zunächst ein paar hundert Meter und will dann wieder anlaufen. Es geht aber nicht. Richtig erklären kann ich es mir nicht, dann meldet sich schlagartig mein Magen: mir wird von jetzt auf gleich übel. Ich muss mich an den Rand setzen und durchatmen, aber es wird immer schlimmer. Britta kommt heran, ich berichte ihr von den Problemen. Sie sagt, dass Henrik doch weitermacht. Nun, das ist für mich keine Überraschung. Alles andere hätte mich auch gewundert. Kurze Zeit später fliegt er auch heran.

Ich gehe wieder einige Meter, bin genervt von der schmalen Straße mit dem Autoverkehr, muss mich dann wieder hinsetzen und meinen Magen entleeren. Was war bloß los? Ich hatte eigentlich ganz gut gegessen, aber dieser ständige Wasser/Cola/Iso-Mix war möglicherweise ein Problem. Danach geht es wieder etwas besser. An Laufen ist aber nicht zu denken. Henrik kommt heran und die beiden geben alles, um mich wieder auf die Beine zu bekommen. Endlich können wir von der Straße weg in den Wald, an der Seepromenade lege ich mich aber endgültig in den Straßengraben und warte auf mein Ende. Läufer wie Passanten kommen vorbei. Einem Pärchen mit Hund erzähle ich von den 161km. “Da muss man schonmal zwischendurch eine Pause machen!” Darüber muss ich fast lachen. Falk und Jan kommen auf dem Fahrrad durch. “Der hat mir jetzt noch gefehlt” denke ich mir. Natürlich hält er an. Ich schüttele immer wieder den Kopf, als er gebetsmühlenartig auf mich einredet, von Hochs und Tiefs auf einem Ultra erzählt und mit Britta zum 500m entfernten Kiosk fährt. Vorher geht unter Publikum auch noch der restliche Mageninhalt ins Gras. Ich bekomme nichts herunter, friere elendig, der Kreislauf sackt völlig ab.

Alle Läufer fragen mich, ob ich ok bin. Ja, natürlich bin ich das! Sieht man doch! Blendend geht es mir! Ich muss ein elendes Bild abgegeben haben. Falk kommt mit Britta wieder zurück, gibt mir eine Kartoffel (die ich wohl auch später gegessen habe) und zieht mich mit aller Kraft auf die Beine. Vorher malte ich mir schon mehrfach aus, wie ein Fahrzeug mich genau an dieser Stelle einsammeln und mich schön mit Rettungsdecke und voll aufgedrehter Heizung zum Ziel fahren würde. Dann könnte ich schön die Augen zumachen. Herrlich. Aber nein, es bleibt ein Träumchen. Falk kennt keine Gnade und auch wenn man partout dagegen ankämpft, da ist dieses letzte verdammte Bißchen im Bewußtsein, dass dieser Typ recht hat. Recht haben muss. Wenn er es nicht weiß, dann niemand. Und er weiß alles über solche Situationen. Daher bleibe ich stehen und setze mich nicht wieder hin, sondern gehe ein paar Meter weiter, bis Falk uns verläßt.

Ich habe Brittas komplette “Garderobe” an, von der Jacke bis zu den wolligen Armstulpen, die ich mir über die Oberschenkel ziehe. Ich sollte bis zum Morgen anbehalten. Auch ihr Handtuch hält mich warm. Nicht hinsetzen, weitergehen, irgendwie bis zum nächsten VP schleppen. Es geht dann plötzlich wieder etwas besser, ich gebe Britta meine Uhr zum Aufladen. Dirk heizt in einem Affenzahn vorbei, “Marek, ich will dich im Ziel sehen!”. Ich schüttele wieder den Kopf. Heute wird alles passieren, aber das mit Sicherheit nicht mehr. 500m vor dem VP ist wieder Endstation. Ich liege am Zaun, es geht nicht mehr. Ich komme einfach nicht mehr die Straße hoch. Mittlerweile stecke ich mir ständig den Finger in den Hals, um auch noch die letzten Reste rauszubekommen. Stefan kommt mit Radbegleitung Jan vorbei und zeigt sich sichtlich schockiert über meinen Zustand. “Du musst dir nichts mehr beweisen.” Schöne und treffende Worte, die jemand findet, der gerade selber ein großartiges Rennen läuft. Ja, muss ich auch nicht. Der Beweis, dass ich Ultra laufen kann, ist heute fehlgeschlagen. Dann nochmal die Kotzgrenze überschreiten und irgendwie kommen wir am VP16 bei Pagels an. Irgendwie.

Britta besorgt mir etwas Brühe, die ich immerhin runterkriege. Eine Wirkung ist aber erstmal nicht vorhanden. Ich friere weiterhin und Britta beordert mich auf eine Bank außerhalb des Gartens. Zwischendurch kommen Nachrichten von Henrik. Er könne nicht mehr laufen und will raus. Von einem gemeinsamen Taxi ist die Rede. Was ist bloß los heute? Nach einiger Zeit beschließe ich, Britta zu Henrik zu schicken, damit wenigstens einer von uns durchkommt. Nun kommt unsere treueste Supporterin ins Mauerweg-Spiel: Kathi wird von Britta beordert, mich bei Pagels mit dem Auto einzusammeln und zurück zum Start zu bringen. Sie macht sich tatsächlich auf den Weg. Als Britta weg ist, bin ich sogar ein wenig froh und ergebe mich meinem Schicksal. Ich sehe das gesamte Feld an mir vorbeiziehen. Klar denken kann ich nicht mehr viel, in einem lichten Moment (gefühlt eine Stunde später) hole ich mein Handy hervor und schaue auf die Nachrichten. Was geht denn hier ab? Ich traue meinen Augen kaum, als ich die vielen Nachrichten sehe. Was denken denn jetzt alle von mir, wenn ich das nicht packe? Aber die Entscheidung steht: ich schreibe in die Gruppe, dass ich hier bei km98 rausgehe, bin maßlos enttäuscht und traurig, dass es heute nicht klappen soll:

Soviele sind heute nur wegen mir auf den Beinen und jetzt dieses Fiasko? Es hilft alles nichts, ich stecke das Handy wieder ein und starre mit leerem Blick auf den Reporter, der alle ankommenden Läufer euphorisch begrüßt. Meine Euphorie ist vor 10km verloren gegangen.

Und dann kommt wieder eine dieser Begegnungen, für die ich unendlich dankbar bin. Richard setzt sich neben mich und wir kommen ins Gespräch. Ich sage ihm, dass ich gleich rausgehe und mich abholen lasse. Er schaut mich ungläubig an und ich “berichte” über meinen Zustand. “Du brauchst Salz.” Und zack, holt er die Dose Salztabletten hervor. Ich helfe mir ein paar davon ein. Er macht sich dann wieder auf den Weg, nicht ohne mir zu wünschen, dass ich doch bitte weitermachen soll. Wir sollten uns im weiteren Verlauf tatsächlich noch mehrfach begegnen. Am VP24 beim km148 nimmt er mich später in den Arm und berichtet den Volunteers “dieser junge Mann wollte bei km100 schon aussteigen und hat doch weitergemacht.” Wie konnte das passieren? Ich weiß nicht mehr warum, ich stehe nach gefühlten 2h von dieser Bank auf und gehe los. Kathi kam nicht und brauchte einige Zeit. Dann gehe ich hier halt etwas entgegen, denke ich mir. Die Übelkeit war plötzlich weg. Ich laufe wieder los. Es geht tatsächlich!? Hatte ich nicht so schwere Beine vorhin? Ich schreibe Britta, dass ich doch noch im Rennen bin:

(Anmerkung: für die 7km zwischen Sacrow und Pagels benötige ich über 3h, bis zum nächsten VP nochmal 01:45).

Und plötzlich denke ich wirklich, ich könnte das Feld von hinten aufrollen. Eine Berg- und Talfahrt erster Klasse bahnt sich an. Vorher aber habe ich noch ein Problem: meine Lampe und Weste hatte Britta in der Radtasche. Es war halb 9 und wurde langsam dunkel. Ich frage alle Überholer, ob sie noch eine zweite Lampe dabeihaben. Und tatsächlich: Beate, die Radbegleitung einer Staffel von Bernd Hübner, hatte eine dabei (und ich habe sie mittlerweile ausfindig machen können)! Und schon wieder eine dieser Aktionen, die mich über diesen langen Tag gerettet haben. Die Weste bekomme ich von Kathi dann auf dem Parkplatz neben der B2 mitsamt einem Picknick. Kathi versorgt mich mit Gels und Wasser und ich mache mich wieder auf die Strecke. Ich glaube selber nicht, was da gerade passiert, bin aber frohen Mutes, dass es doch noch eine Chance gibt, die 100 Meilen zu schaffen!

 

Bei km105 warten Sahra und Markus auf mich. Die beiden sind mit dem Rad unterwegs und begleiten mich nun ganze 22km bis zum Ruderclub Oberhavel, der den letzten Wechselpunkt der Staffeln bereithält. Beide sind erfahrende Läufer (mit Sahra sind wir 2016 den TAR gelaufen, Markus hat 2017 den TAR gefinished) und wissen genau, worauf es ankommt.

Los ging es mit Sahra und Markus

Und es geht wieder recht fluffig voran. Zwischen VP16 in Falkensee (km110) und VP17 (km116) in Berlins Eiskeller, Schönwalde, habe ich keine größeren Probleme. Die beiden lenken mich gut ab, lassen mich aber auch in Ruhe. Genau die richtige Mischung. Ich laufe sogar einen Kilometer unter 6min. Es fühlt sich an wie ein neuer Weltrekord. Hinter Schönwalde geht es dann einen recht unwegsamen Weg weiter, den ich vorsichtshalber gehe. Stürzen muss jetzt nicht auch noch sein. Mittlerweile war die Nacht angebrochen und man sieht die Hand vor den Augen kaum.

Auf dem Weg in Richtung Havel verschlechtert sich mein Zustand wieder. Die Übelkeit kommt wieder zurück und ich muss mehrfach anhalten. Die Waldpassage nimmt partout kein Ende, bis wir endlich wieder in beleuchtetes Gebiet kommen. Es dröhnt die Musik der umliegenden Diskotheken. Ich setze mich auf eine Bank, aber es folgt wieder die gleiche Story: ich friere schnell und torkele daher weiter. Ein Läufer kommt uns entgegen, geht vorbei. „Marek, bist du das?“ Ich kriege nichts mehr auf die Reihe und erkenne doch Christian. Er wollte eigentlich die letzten 30km mitlaufen, aber ich kam einfach nicht und die Kälte war unerbittlich. Ein Wunder, dass er uns überhaupt gefunden hat! Wo hat er denn die Lampe her? Aber seine Anwesenheit baut mich auf, ich kann einfach nicht glauben, dass soviele uns an diesem Tag unterstützen. Ich quäle mich weiter bis zum VP19, sacke auf den Bierkasten und möchte nur noch sterben. Christian massiert mich eine Weile, das tut richtig gut. Aber es muss nochmal alles nach oben raus. Neben mir kotzt sich auch jemand aus, es stört niemanden und mir ist es mittlerweile auch völlig egal. Eine gewisse Routine stellt sich ein 🙂 Die Leute dort reagieren verdammt cool, mischen mir eine Elektrolytlösung in Sahras Flasche, die ich mir dann nach und nach reinziehe. Die Kälte! Damit hatten wir einfach nicht gerechnet. Ich bin so froh, dass ich Brittas Jacke und die Stulpen habe, sonst wäre ich schon lange erfroren. Meine Jacke war erst in Oberhavel deponiert.

Wir kriechen weiter in Richtung VP20, dem Ruderclub Oberhavel. Christian verabschiedet sich unterwegs, er ist für die Temperaturen nicht ausgerüstet. Aber auch er war ein so wichtiges Teil in dem Mauerweg-Puzzle an diesem Tag. Endlich am Ruderclub angekommen, erwartet uns Kathi bereits. Ich bin unendlich froh, sie wiederzusehen. Es dröhnt die Musik von den Diskothek nebenan. Wie halten die Leute das hier bloß länger aus? Ich bekomme ein VIP-Versorgungspaket geschnürt: Jacke aus dem Dropbag holen, ausziehen, anziehen, Haferflocken futtern (so lecker!), Zwieback einpacken, Flaschen auffüllen, Kommunikation mit Britta über meinen Zustand. Es fehlt mir an nichts.

Sahra und Markus verabschieden sich, Kathi fragt mich noch, ob sie weiterfahren soll nach Frohnau, aber ich lehne energisch ab. Von hier nur noch ein Marathon – das muss doch noch gehen? Und so gehe ich guten Mutes wieder raus und begebe mich allein auf die letzten 42km.

Henrik: von Sacrow (km91) bis Oberhavel (km128)

Diese Havelchaussee hoch ist nicht sehr spannend, aber ich war auch schon wieder arg mit mir selbst beschäftigt. Die linke Achillessehne klopfte nach dem Schuhwechsel wieder sehr deutlich an. Keine gute Idee war das. Es/ich ging in den Wald und plötzlich stand da Britta vor mir. Den am Baum kauernden Marek habe ich erst gar nicht wahrgenommen. Ein Häufchen Elend mit exakt den Symptomen, die ich auch auf La Palma hatte. Ich wusste genau, wie ätzend sich das anfühlt. Wir berieten uns etwa 20 Minuten und hofften auf Besserung nach diversem Auskotzen, aber die trat nicht ein. Ich ging weiter, um beim nächsten VP eventuell Hilfe zu bekommen – vielleicht könnte sich Marek bis dahin ja durchschlagen. Ich wusste, dass man da rauskommen kann (siehe Transvulcania), aber ehrlich gesagt kam mir das ganze Drama nicht soooooo ungelegen, denn nun konnten wir ja das Rennen guten Gewissens zusammen abbrechen.

Jeder Schritt schmerzte und an Laufen war nicht zu denken. Ich schaltete mein Telefon nun ein, um mit Britta Konktakt zu halten und rief vorsorglich die myTaxi-App auf. Bis zum Pagel-VP walkte ich durch. Dort gab es Gemüsebrühe (DANKE!) und ich wurde umsorgt. So richtig gut sah ich wohl nicht mehr aus (Entschuldigung, es war Km98,7). Ich stand eigentlich nur aus dem Sessel wieder auf, weil ich ganz kurz eingeschlafen war. Und ging wie von Geisterhand gesteuert weiter. Ich konnte mich mit dem Gedanken anfreunden, zumindest die 100 Km vollzumachen. Da würde ich wieder an der Hauptstraße sein und ein Taxi rufen…

…die WhatsApp-Kommunikation spricht Bände:

Chatverlauf zwischen Britta und Henrik

Der Exit war beschlossene Sache. Dann kam Falk auf dem Bike vorbei. Ich wollte nicht reden, sondern nur noch Hause. “Nein, Henrik, keine Lust zählt nicht!” und “das Tief geht vorbei” waren seine Worte. Ein wenig beeindruckt hat mich das schon – der Typ hat so unglaublich viel Erfahrung und Menschenkenntnis. Marek ist sein größter Fan und seit Samstagabend hat er den zweitgrößten. Also ging ich halt weiter und wartete auf Nachricht, ob Marek bis zum Pagel-VP gekommen sei. Dahin könnte ich ja immer noch mit dem Taxi zurückfahren… um 18:53 Uhr stellt mir Britta die Frage, ob ich noch laufe und wo ich sei. Es folgte die Kampfansage, die eigentlich gar nicht so gemeint war:

“BIN NOCH IM RENNEN!”

Und tatsächlich, die Laufabschnitte mehrten sich und ich kam wieder gut voran. Die Heerstraße überquerte ich laufend und bei VP17/Km110 traf ich Jens, der eine Zweierstaffel ins Ziel brachte. Ich plauderte ein wenig mit dem Team über diese Veganer und genoss die Vorabendstimmung. Die Sonne senkte sich nun schnell. Ein Abstecher noch auf das Dixi-Klo und weiter ging es.

Mal walkend, mal laufend. Ich wurde seit 2 Stunden ziemlich durchgereicht. Marek ging es offensichtlich besser und ich war nicht wirklich verwundert, dass er die Startnummer beim Pagel nicht abgemacht hatte. Britta holte mich bei etwa Km112 ein und berichtete mir die ganze Geschichte. Sahra funkte, dass er “unter 6 min/Km” liefe. Wo sollte das alles noch hinführen heute? Ins Ziel natürlich!

Die 15 Km bis zum Wechselpunkt 3 zogen sich wie Kaugummi. Selbst Helene Fischer aus Brittas Beatbox konnte nicht viel helfen. Stefan überholte uns mit seiner Zweierstaffel genau an einem Punkt, wo ich wieder längere Passagen lief. Es war einfach spannend zu sehen, wie jeder seinen eigenen Kampf kämpfte und trotzdem alle hilfsbereit, freundlich und besorgt waren. Ein anderer Begleitradler sah zum Beispiel, dass ich meine Warnweste anlegen wollte und bot sich an, meinen Rucksack solange zu halten. Kleine, aber unglaublich wichtige Gesten. Marek war etwa 6 Km zurück. Ich war mir sehr sicher, dass er uns noch einholen würde. Km120 war ein weiterer Meilenstein – jetzt war es “nur” noch ein Marathon.

In Oberhavel erwarteten Britta und mich schon Dirk und Kati mit ganz viel Motivation und warmen Haferflocken (boah, tat das gut). Ich saß etwas zu lange, so dass mir kalt wurde. Und dann ging das Duo Britta und Henrik, das in den letzten Stunden zu einem sich blind verstehenden Team zusammengewachsen war, wieder auf die Reise und auf den dunkelsten Teil der Strecke. Das Ziel lautete unverändert: Cantianstadion.

Marek: von Oberhavel (km128) bis zum Ziel (km161)

Ich kann auf einige aufschließen und vorbeigehen, die Motivation ist ungebrochen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich durchkomme. Reicht es denn auch noch für die Gürtelschnalle? Ich rechne immer hin und her und bekomme es noch zusammen. Es wird reichen, wenn nicht noch eine längere Pause nötig ist. Der VP in Frohnau ist kaum zu erkennen von Weitem, ich halte mich nun aber nicht mehr lange auf, lasse die Flasche mit Cola auffüllen und ziehe weiter. Auch mit zügigem Gehen kann man noch Leute überholen! Es geht über die B96 rüber und ich erreiche den Naturschutzturm bei km138.

Gleiches Spiel auch hier: Cola-Nachschub und weiter. Hier treffe ich wieder Richard, es motiviert unheimlich, ihn zu sehen und auch er freut sich merklich, dass ich noch im Rennen bin. Eine größere Motivation kann es nicht geben. Vor dem VP bei km143 in Glienicke-Nordbahn ist es wenigstens etwas beleuchtet, ich erkenne auch die Stelle wieder, wo ich mich vor zwei Jahren verlaufen hatte. Viel passiert nicht in diesen Stunden, ich werde überholt und überhole selbst, meist die gleichen Leute. Die Geh-Passagen werden immer länger. In Lübars bei km148 gibt es keine Cola mehr, egal, was bringt es, sich da aufzuregen. Ich “präsentiere” den Mitlaufenden den Blick auf den Fernsehturm und erinnere mich, wie wir damals hier abgefeiert haben. Als es noch 17km sind, schreibe ich das in die Gruppe, Henrik scheint mir immer ca. 8km voraus zu sein. Dass ich ihn nicht mehr einholen kann, war zu dem Zeitpunkt klar. Und es waren nur noch zwei VPs! Es ist unerklärlich, der Körper fährt immer mehr runter, aber die Gefühlslage macht genau das Gegenteil:

Marek schreibt Britta in der Nacht.

Als ich hinter Wilhelmsruh den unendlich langen und dunklen Weg an der S-Bahn verlasse, steht Britta vor mir. Sie ist tatsächlich nochmal losgefahren, als Henrik im Ziel war! Ich kann partout nicht mehr laufen, aber das macht jetzt nichts mehr. Wir beide wissen, es wird klappen, das Ziel ist so nah. Trotzdem tut es noch richtig weh. Den letzten Teil kenne ich gut, Britta fährt ins Ziel vor, ich schnacke noch mit zwei Italienern, es ist doch gleich vorbei! Die Brücke an der Bornholmer Straße geht es hoch, runter kann ich sogar noch “laufen”. Dann kommt der Jahnsportpark in Sicht. Für die Schlussrunde spare ich mir die letzten Reserven auf (waren noch welche da?). Es war mittlerweile hell geworden. Ich kann kaum noch klar denken, aber die Erleichterung ist grenzenlos. Ich herze Britta, die heute Unglaubliches für uns geleistet hat. Olaf reicht mir das Finisher-Shirt, freuen kann man sich in diesem Moment leider kaum nach außen, so fertig ist man nach diesem Ritt. Nach unfassbaren 23h und 36min hatte dieses Rennen für mich ein versöhnliches Ende.

Henrik: von Oberhavel (km128) bis zum Ziel (km161)

Der stockfinstere Weg ist eine enorme mentale Herausforderung. Brittas Fahrradfunzel und meine Stirnlampe wiesen uns den Weg. Der VP21 kam sehr flott. Ich lief nur noch ganz wenig und wenn, dann vielleicht 20 Meter. Der Ofen war einfach aus. Die Schultern schmerzten, die Füße brannten, die Oberschenkel… es gab nichts mehr an diesem Wrack, was nicht weh tat. Britta hielt mich in Seelenruhe auf dem Laufenden, wie es bei Marek lief. Dann kam die Nachricht, dass er ab Oberhavel allein unterwegs war. Sie wollte aber den stockfinsteren Weg nicht zurückradeln. Ich schlug vor, dass sie am VP am Naturschutzturm Hohen Neuendorf auf Marek wartet. Dort bekam ich einen Tee, der ganz guttat. Generell fand ich die warme Verpflegung zu dünn. Denn es wurde langsam empfindlich kalt und ich hatte keine Jacke beim Wechselpunkt 3 deponiert.

5 Minuten später war Britta dann wieder bei mir, Marek wollte ihren Support zu diesem Zeitpunkt nicht. Also schleppten wir uns zu zweit weiter. Britte opferte auch noch ihre Ärmlinge für mich, als ich gegen Mitternacht zu frieren begann.

An so manche Passage habe ich keine Erinnerung. Wir sehnten uns beide die Lichter und den Lärm der Stadt herbei, aber nichts kam außer dunkle Wege mit Pferdeäpfeln und Bodenwellen. Und dann auch noch Hügel! Bordsteinkanten waren ja schon Herausforderungen. Ich walkte endgültig ab Km140. Etwa 6 Km pro Stunde sind so zu schaffen. Quälende Kilometer zogen sich dahin. Man funktioniert nur noch. Jetzt wäre wohl der Zeitpunkt, an dem man alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet. Eine Art Wachkoma ist das. In dunklen Passagen ohne Orientierung am Wegesrand schlingerte ich schon. In Wilhelmsruh patzte mich eine Radlerin an “nicht auf dem Radweg gehen, auch wenn Sie besoffen sind”. So falsch war die Einschätzung nicht.

3 Km vor dem Ziel waren wir ENDLICH in der Stadt und ein Streckenposten gratulierte schon. Britta fuhr vor ins Stadion und ich machte nun die letzten Meter mit mir allein aus. Dann kam der S-Bahnhof Bornholmer Straße, dann die S-Bahn-Brücke, wo ich Marek vor zwei Jahren abgeholt hatte. Max-Schmeling-Halle, Eingang Stadionbereich. Ich wollte mich so gern freuen, hatte aber keine Kraft mehr. Ich war überrascht, dass ich doch bis hier gekommen bin. Die allerletzte Energie musste für die Schlussrunde im Laufstil herhalten. Startnummer 305 war nach den vielleicht intensivsten 22 Stunden und 8 Minuten seines Läuferlebens angekommen.

Britta: von Teltow (km59) bis ins Ziel (km161)

Pass gut auf Papa und Nenni auf!

Mit diesen Worten verabschiedeten mich meine Jungs und ich machte mich auf den Weg nach Teltow. Vorab hatte ich noch panisch alles Mögliche an Klamotten in die Fahrradtasche geschmissen, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte, was ich später anziehen wollte. Zu viel? Wie sich später herausstellen sollte, war es eher noch zu wenig.

Abfahrt in Zeuthen!

Kurz nachdem ich in Teltow eintraf, kamen „meine Zwillinge“ auch schon um die Ecke. Sie sahen noch recht frisch aus, bemerkten aber, dass der „letzte Abschnitt schon krass war“ und dass sie teilweise zu flott unterwegs waren. Wir machten uns zu dritt auf den weiteren Weg und ich war aufgeregt und gespannt, wohin die Reise uns noch führt.

Schon ein paar Kilometer später fiel Henrik etwas zurück und Marek schickte mich zu ihm. Ich weiß nicht mehr, was genau Henrik beklagte, aber ich erinnere mich gut, dass er fest entschlossen war, in Sacrow auszusteigen. Er war frustriert und schickte mich zu Marek zurück. Ich pendelte während der nächsten Kilometer also zwischen den beiden hin und her und fand (noch) nicht so richtig in meine „Rolle“ als Fahrradbegleitung. Während ich Marek wieder ein Stück begleitete, tauchte plötzlich Erik aus seiner Zeuthener „Running-Crew“ auf und da ich ihn für die nächsten Kilometer in guten Händen wusste, fuhr ich wieder zurück zu Henrik. „Ich bleib jetzt erst einmal bei dir, Marek ist in guter Begleitung!“. Er hat nicht widersprochen, also war das wohl in Ordnung. Etwas später beklagte er seine harten Waden und ich bot ihm meine CEPs aus meiner Fahrradtasche an. „Für meine fetten Waden?“, fragte er. Entweder sind sie doch nicht so fett, oder meine sind dicker als ich dachte, jedenfalls passten sie ihm sehr gut und ab da ging es etwas besser für ihn voran. Wir trafen zuversichtlich in Sacrow ein und trafen auf Dirk, der uns mitteilte, dass Marek kurz zuvor den VP verlassen hat. Nachdem ich Henrik das Versprechen abnahm, dass er NICHT aussteigt, machte ich mich auf den Weg zu Marek.

Ich musste nicht lange fahren, da sah ich ihn am Straßenrand gehen. „Da bin ich!“, schmetterte ich ihm freudig entgegen. Leider reagierte er nicht ganz so freudig zurück. Sein Magen macht Probleme und ihm sei schlecht. Wir gehen eine Weile weiter und kurz darauf kauerte er am Rand und fing an sich zu übergeben. Die ersten Läufer hielten an und fragten, ob alles „o.k.“ sei. Ja… naja… nicht wirklich! Eine Radbegleitung hat uns netterweise stilles Wasser angeboten, welches ich dankend annahm und durch den Inhalt unserer Flasche (ISO) austauschte. Danke! Marek versuchte auf die Beine zu kommen, aber nach ein paar Metern kauerte er schon wieder und baute körperlich immer mehr ab.

Henrik kam auf uns zu und wir versuchten gemeinsam, Marek wieder auf die Beine zu bekommen. Ich fühlte mich hilflos (nicht das letzte Mal an diesem Tag/Abend) und war froh, dass Henrik bei uns war. Kurz darauf schickte Marek seinen Bruder wieder ins Rennen. Marek selbst kam nicht so recht wieder auf die Beine. Die Erinnerungen sind leicht verschwommen, aber ich werde wohl nie das Bild vergessen, wie er kurz darauf im Graben lag, sich abermals übergab und sagte: “Es tut mir so leid! Ich bin ganz schön jämmerlich, was?!“ Er fing an zu frieren und ich gab ihm alles Mögliche an Klamotten, die ich noch in meiner Fahrradtasche hatte.

Rien ne va plus.

Es folgte ein Wortwechsel per WhatsApp mit Henrik und für ca. zwei Minuten stand fest, dass beide aus dem Rennen aussteigen und sich ein Taxi suchen werden. Dann sagte Marek plötzlich, ich soll Henrik ausrichten, dass dieser weitermachen soll! Ich ließ die beiden miteinander telefonieren. Kurz nach dem Telefonat kam Falk um die Ecke. „Ein bisschen schräg der Typ“, dachte ich noch, während dieser auch schon anfing, auf Marek einzureden. „Ah, die zwei kennen sich!“. Innerlich feierte ich diesen Mann schon nach den ersten paar Sätzen und bekam neue Hoffnung, dass das hier doch noch für Marek weitergehen könnte.

Falk erklärte mir alles Mögliche zu basischer Ernährung und was für Marek jetzt gut und wichtig wäre und ich hörte aufmerksam zu. Danke Falk! Zwischenzeitlich kommunizierte ich mit Kathi und Sahra und wechselte ständig unseren Status zwischen „Marek hört auf“ und „Marek macht weiter“… Nebenbei fragte ich noch auf Facebook, ob irgendwer in der Nähe wäre und irgendetwas „Magenfreundliches“ vorbeibringen könnte und ich bat um drückende Daumen, dass sich Mareks Zustand verbessert… Ich wusste nicht, was ich tun sollte, dabei wollte ich ihn so gern zurück ins Rennen holen!

Kurz darauf kam Falk auf einmal wieder angeradelt und hatte eine „basische Kartoffel“ in der Hand! Nachdem Marek sich abermals übergab und Falk dann doch etwas skeptisch kommentierte, dass das „nicht so gut aussieht“, zog er Marek auf die Beine und sagte: “Du gehst jetzt weiter!“ und redete noch etwas auf ihn ein und machte sich dann wieder auf den Weg zu dem Läufer, den er eigentlich begleitete.

Marek setzte einen Fuß vor den anderen und es ging kurzzeitig auch etwas besser. Kurzzeitig, denn kurz vor dem VP Pagel lag er wieder an der Seite und nichts ging mehr.

Ich sagte Marek, dass er sich in die Sonne setzten soll und ich zum VP vorfahre. Ich wollte gucken, wie weit dieser noch entfernt war und ob es dort irgendetwas gab, was Marek evtl. helfen könnte. Pagel war wirklich ein herzlicher VP! Mir wurden Kartoffeln in eine Tüte gepackt und die Wasserflasche aufgefüllt und sie schickten mich mit den Worten „Bring deinen Mann zu uns!“ wieder zu Marek zurück. Dieser kauerte noch an selber Stelle und wollte meine Kartoffeln nicht. Ich sagte ihm, dass es nicht weit war und er bitte einfach aufstehen und langsam weitergehen sollte. Nicht mehr hinsetzen, langsam gehen… Den Kreislauf wieder in Schwung bringen.

So schleppten wir uns weiter Richtung VP Pagel und ich beantwortete geduldig die Fragen der hilfsbereiten Läufer und Läuferinnen. „160km? Ernsthaft? Warum macht man so etwas?“… „Da vorne der Mann im roten Shirt, der sah gar nicht gut aus“… „Was? Das war ihr Mann? Oh, Entschuldigung, ich wollte sie nicht besorgen“ …

Laufen konnte man das nicht nennen.

In Pagel angekommen, zog ich Marek aus dem Trubel, setzte ihn etwas abseits und brachte ihm Brühe und nachdem er sagte, dass er Durst hätte, noch etwas verdünnte Apfelschorle. Wir saßen dort eine ganze Weile und Marek entschied dann endgültig, dass die Reise hier für ihn zu Ende wäre. Ich war traurig, aber ich wusste nicht, was ich noch tun oder sagen sollte, um ihn dazu zu bringen, es noch einmal zu versuchen. Ich war nicht Falk, der aus eigener Erfahrung sagen konnte, dass das alles bei einem Ultra passieren kann und dass nach einem Tief auch immer wieder ein Hoch kommen kann bei so einem langen Rennen. Ich fragte Marek, ob ich dann versuchen soll, Henrik ins Ziel zu bringen? Er freute sich über meinen Vorschlag und nachdem ich unsere liebe Kathi angerufen hatte und sie gebeten hatte Marek am VP einzusammeln, machte ich mich auf den Weg zu Henrik.

Ich schickte ihm eine Whatsapp, ob er noch läuft und wo er aktuell ist und er antwortete: „bin noch im Rennen!“ und schickte mir seinen Standort. Ich flitzte los und radelte keuchend über die Hügel. Ich brauchte bestimmt 30-45min (oder länger?), ehe ich ihn endlich erblickte.

Kathi rief an: „Ich habe grad mit Marek telefoniert und er macht doch weiter!“ Ernsthaft? „Oh man“, dachte ich! Was mach ich denn nun? Wieder zurück zu Marek radeln? Marek sagte, ich solle bei Henrik bleiben und ich tat es auch, nachdem ich wusste, dass Sahra und Marcus am VP17 auf Marek warteten. Für die ständige Pendelei waren die beiden jetzt einfach viel zu weit auseinander.

Und so begab ich mich mit Henrik auf den weiteren Weg. Wir haben uns ganz gut eingespielt. Ich glaube, ich spürte ganz gut, wann er seine Ruhe haben wollte oder wann ihm nach ein bisschen Smalltalk war. Zwischenzeitlich fühlte ich mich trotzdem immer wieder hilflos, weil man kaum etwas tun konnte, als nebenher zu radeln und einfach „da“ zu sein. Ich hatte also auch genug Zeit, meinen Gedanken nachzugehen und bewunderte die Zwillinge im Stillen für diese starke mentale Leistung. Beide waren wieder im Rennen und ich war mir sehr sicher, dass sie dieses nun auch zu Ende bringen werden. Ich malte mir schon aus, wie ich schluchzend an der Ziellinie stehen würde und die beiden in die Arme schließe. Es soll ja manchmal helfen, Ziele zu visualisieren ?

Henrik wechselte nun häufiger zum Gehen und es wurde dunkel und verdammt kalt. Uns nervten diese elendig langen Passagen im dunklen Wald und wir feierten jede Straßenlaterne und jedes Auto. Ja, jedes Zeichen von Zivilisation. Zwischenzeitlich wollte er mich immer wieder zurück zu Marek schicken, aber ich hatte Angst, allein durch den dunklen Wald zu radeln und weigerte mich. Mit jedem Kilometer fiel es ihm schwerer und ich fühlte mich (mal wieder) hilflos! Außer diesen typischen Sprüchen „Du hast es bald geschafft“ usw. fiel mir auch nicht wirklich etwas ein, also schwieg ich lieber und beobachtete ihn, um vielleicht noch irgendwie zu bemerken, was er brauchen könnte. Wir schleppten uns eigentlich nur noch von VP zu VP und rechneten immer wieder nach, wie weit Marek ungefähr hinter uns wäre. Ich beobachtete etwas besorgt den Live-Tracker von Marek und war immer wieder sehr erleichtert, wenn er den nächsten VP erreicht hatte.

Irgendwann zwischen 1-2 Uhr nachts wurde mir klar, dass wir insgesamt noch locker 3-4 Stunden brauchen würden, eh alle 3 im Ziel sind. Zu diesem Zeitpunkt war auch ich mal sehr demotiviert. Mir war schrecklich kalt und ich war müde und mir tat mittlerweile auch alles weh. Kurz schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, dass es eigentlich doch nicht so schlimm wäre, wenn Marek sein Rennen abbrechen und uns bereits im Ziel erwarten würde und wir schnell nach Hause ins warme Bett und zu unseren Kindern könnten… Aber zum Glück war dem nicht so! Irgendwie funktioniert man ja, auch wenn man sich nachträglich fragt, wie das möglich ist. Das gilt natürlich mehr für die Jungs als für mich.

Ein paar Kilometer, bevor Henrik ins Ziel laufen sollte, spürten wir doch sehr deutlich, dass wir eigentlich nur noch funktionierten und alles langsam egal wurde. Emotionen? Fehlanzeige! Wir hatten nur noch ein Ziel: das Ziel! Ich nervte Henrik ja schon seit Ewigkeiten mit meiner Frage, die ich sonst eher von meinen Kindern kenne: „Wie weit haben wir es noch?“
Ich fragte Henrik trotzdem, ob ich vorfahren und seinen Zieleinlauf filmen soll. Es war ihm natürlich egal, aber nachträglich war es doch gut, dass wir uns dafür entschieden haben. Zwei Kilometer vor Zieleinlauf radelte ich also vor und erwartete Henrik im Ziel. Ich nahm ihn in die Arme und knutschte ihn und sagte, dass ich sehr stolz auf ihn bin. Weinen mussten wir beide nicht.

Anschließend schickte ich Henrik in die Garderobe, damit er sich aufwärmen konnte und obwohl ich körperlich auch im Eimer war, setzte ich mich wieder aufs Rad und fuhr Marek entgegen. Es wurde langsam hell und ich feuerte die vorbeikommenden Läufer noch einmal kräftig an. Viele waren dankbar, andere waren einfach auch nur fertig und wollten mir nicht wirklich glauben, wenn ich sagte, es sei gleich geschafft!

Dann (ca. 7km) vor dem Ziel erblickte ich Marek und konnte ihn wenigstens noch die letzten wenigen Kilometer begleiten. Er war gut drauf und wir gingen schon die ersten Anekdoten von diesem Lauf durch. Was er da eigentlich in den letzten Stunden geleistet hat, wie er sich aus diesem TIEF wieder herausgeholt hat, das realisierte ich erst Stunden später. Gut gelaunt begaben wir uns also auf die letzten Kilometer und auch hier verabschiedete ich mich kurz vor dem Ziel und radelte vor, um den Zieleinlauf zu filmen.

Mein Fahrrad vor dem Stadion konnte ich nur noch unter Schmerzen anschließen. Ich konnte mich weder bücken, noch drehen, noch gar nichts. Aber ich konnte Marek filmen, wie er glücklich und erleichtert und unglaublich stolz die Ziellinie überquerte! Auch ihn herzte und knutschte ich und schickte ihn zu Henrik in die Garderobe. Während ich draußen auf die beiden Zwillinge wartete, kam eine Frau mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu und sagte: “Herzlichen Glückwunsch!“, blickte anschließend auf meine Startnummer und sagte: “Ach, sie waren ja NUR die Begleitung…“ Danke!

Auch Marek im Ziel.

Erst Stunden später, nach dem gemeinsamen Mittagsschlaf mit unserem Jüngsten realisierte ich nach und nach, was da passiert ist und musste weinen. Ich bin so unglaublich stolz auf die beiden und auch ein bisschen auf mich, obwohl ich gar nicht so viel tun konnte….

Danke, dass ihr mich auf diese Reise mitgenommen habt! Ich würde euch immer wieder begleiten.

 

Angekommen – aber wo eigentlich? Eine Erklärung ergibt sich vielleicht aus unserem ersten Auftritt beim Mauerweglauf 2016, als wir die Zweierstaffel gewinnen konnten. Den Buddybären haben wir gleich nach der Siegerehrung unserer Mutter geschenkt, die genau eine Woche später verstorben ist. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch. Da lebt offensichtlich etwas von ihr in uns weiter.

Klassentreffen auf dem Rennsteig

Nachdem wir 2016 das erste Mal auf dem Rennsteig zugegen waren, wollten wir es dieses Jahr beim Supermarathon nochmal wissen. Die Premiere glich damals doch eher einem über 70km langen Leidensweg mit vielen (un)freiwilligen Zwischenstops als einem richtig gelungenen Ultra-Rennen. Gesagt – und nur zur Hälfte getan: Henrik konnte in den letzten zwei Wochen die Transvulcania-Blessuren nicht wegstecken und hatte sowohl mit den Nachwehen als auch mit starker Auslastung im Job zu kämpfen. Das passte nicht zusammen, also entschieden wir gemeinsam am Donnerstag: nur ein Twin wird auf den Rennsteig gehen. Und das war dann eben meine Wenigkeit.

 

Der Rennsteig…

muss erstmal erreicht werden. Für die Supermarathonis lautet der Startort: Eisenach! Ich schiffte mich bei Stefan und seiner UA-Crew ein, die pünktlich am Freitag Nachmittag von Berlin in Richtung Eisenach “flog”. Während der Autofahrt hatte ich jedenfalls einen konstant höheren Puls als auf dem Gipfel des Großen Beerbergs (Stefan erzählte uns erst später, dass er bei Sixt keine Autos mehr bekommt). Geplant hatte ich eine Übernachtung im Gymnasium in Eisenach, die UA-Crew nahm mich aber in ihr bequemes Quartier (ca. 40km von Eisenach entfernt) mit auf, so dass ich nach der Startnummernabholung und einem feinen italienischen Essen nur kurz, aber richtig gut schlafen konnte. Im Traum lief ich die Strecke schonmal ab, unterwegs allerdings verlor ich meine Startnummer. Ein schlechtes Omen? Das geplante Frühstück in der Schule schenkten wir uns spontan, der Kaffee an der Tanke reichte uns, mein obligatorischer Cliffbar-Riegel und das Brot vom Vortag dienten mir als Energie-Grundlage. Genug zu futtern gibt es ja eh immer auf der Strecke!?

 


Der Rennsteig…

hält einige Traditionen bereit, denen man nicht entkommen kann. Dazu gehört auch das Rennsteig-Lied, das kurz vor dem Start ertönt und von allen Kehlen lautstark geträllert wird. Die Minuten bis dahin vergingen ziemlich unaufgeregt. Janos fand ich sofort, Christian stand Gewehr bei Fuß und auch mein Lauf-Mentor Falk “überfiel” mich rechtzeitig, um meine Taktik abzuklopfen und mir die Nervosität zu nehmen. Er hatte sich doch tatsächlich um 03:30 in Oberhof in den Bus gesetzt, um die Rennsteig-Läufer zu supporten! Seine Anwesenheit sollte sich noch als Glücksfall für mich herausstellen. Der Hubschrauber kreiste bei fantastischem blauen Himmel und dann ging es auch schon los auf die ersten Kilometer in Richtung Rennsteig.

 

Der Rennsteig…

wird nicht auf den ersten 25km entschieden. Das sagen wirklich alle alten Hasen und es stimmt ohne Frage. Eine gute Taktik muss man sich also bereitlegen. Für die ersten 25km zum Inselsberg hatte ich mir 02:15 vorgenommen. “Pack da mal noch 10min rauf” riet mir Falk vor dem Start. Das erschien mir dann doch etwas zu konservativ, zumal wir vor 2 Jahren ziemlich genau mit dieser Zeit durchgingen und ein wenig Polster wollte ich schon herauslaufen. Die ersten Kilometer war ich mir sehr unsicher, ob die Beine wirklich bereit waren für gute 75km. Es war teilweise ganz schön anstrengend, aber es geht ja auch durchweg hoch. Janos lief sehr schnell los und ich sah seinen wirklich eleganten Laufstil, wollte aber nicht zu sehr drücken, um aufzuschließen. Warum auch – ich wollte partout mein eigenes Rennen machen. Nach 7km beim ersten VP stand Falk und ich rief ihm zu, dass ihm doch beim nächsten Mal meinen Rucksack geben würde. Mit den zwei Softflasks und dem Trinkvorrat war es schon recht schwer – und auch völlig unnötig. Auch das hatte mir Falk vorher gesagt, ich wollte es aber nicht wahrhaben. “Komm, schmeiß her das Ding” – und schon war ich ihn los. Gleich viel angenehmer! Eine Softflask nahm ich noch in die Hand und behielt sie auch bis ins Ziel. Im Nachhinein klopfte ich mir für diese Entscheidung auf die Schulter. Enrico lief vorbei, wir plauderten noch etwas über seinen Transvulcania, bevor er von dannen zog. Auch Annika Krull (am Ende 2.) lief den einzigen Trail bei km18 vor mir hoch und verschwand aus langsam aus meinem Blickfeld. Es war merklich leerer auf der Piste als vor 2 Jahren. Kein schlechtes Zeichen, dachte ich mir, das Tempo kann jetzt so langsam nicht sein.

 


Der Rennsteig…

hält nur wenige Ausblicke auf der Laufstrecke bereit. Einer davon findet sich auf dem Großen Inselsberg. Natürlich nur, wenn man etwas Zeit mitbringt und nicht sofort wieder den Abstieg runterfliegt. Bis zum Inselsberg bloß nicht abschießen, lautet die oft gehörte Devise. Wer hier zuviel Körner aufbraucht, hat sogut wie verloren. Ich hatte den Anstieg zum Glück steiler in Erinnerung und kam für meine bescheidenen Verhältnisse gut hoch. Kurz hinter dem Gipfel erwartete mich auch schon der Falk. Ich sollte schön ruhig runterlaufen, mich gut verpflegen und dann den nächsten Teil mit verhaltenen 5min/km angehen. “Rennst du da jetzt wieder hoch?” fragte ich ihn, obwohl ich die Antwort schon kannte. Das Ganze hat er dann wirklich noch mehrmals durchgezogen (in Jeans!). Aber seine Hinweise und Motivation gaben mir die Sicherheit, dass das heute was werden könnte, mit mir und dem Rennsteig.

 


Der Rennsteig…

hat mit Trailrunning wenig zu tun. Da muss man schon ehrlich sein. Es folgte nun ein 3km-Beton-Abschnitt, an den ich null Erinnerung hatte. So ging es mir noch ein paarmal später. Ich vermute, es liegt daran, dass man in schwierigen Momenten einfach keinen Blick für die Strecke hat und nichts speichert. Der Wanderweg ist zum großen Teil eine Wald-Autobahn auf breiten Forstwegen, erst im zweiten Teil wird es ein wenig anspruchsvoller, aber immer gut laufbar. Vor 2 Jahren hatte ich schon einen Hänger auf diesem Abschnitt und horchte ständig in mich herein, das sollte nicht wieder passieren. Aber es lief weiter fluffig. Bei km35 gesellte sich Rene aus Berlin zu mir. Unser Tempo war quasi identisch und wir plauschten eine Weile zusammen. Er will im Herbst mit auf den TAR gehen – da hatten wir natürlich ein Gesprächsthema! Es sollte auch mein schnellster Split an diesem Tage werden. Wir nahmen den VP an der Ebertswiese bei km37,5 mit (Heidelbeer-Suppe!) und zogen nach der Halbzeit zusammen los.

 


Der Rennsteig…

wird auch nicht auf dem folgenden Abschnitt entschieden. Rene machte Druck und mir erschien das Tempo doch einen Tick zu schnell. Bis zu den Neuhöfer Wiesen bei km45 geht es leicht hoch und läuft sich nicht so einfach weg. Ich kam die Anstiege aber etwas besser hoch und lief fortan wieder alleine weiter. Dass es weiterhin ganz brauchbar lief, machte ich daran fest, dass von hinten kaum jemand aufschloss. Der VP bei km45 war mir noch gut in Erinnerung – hier brachte ich bei meiner Rennsteig-Premiere einige Minuten zu. Heute waren es nur ein paar Sekunden.

 

Der Rennsteig…

ist ein Ultra und mit knapp 1900 Höhenmetern auch kein einfacher. Dessen sollte man sich bewußt sein, wenn man nun versucht, das Rennen zu entscheiden. Bis zum Grenzadler gibt es einige Downhills, die dazu verleiten, schnell zu laufen. Ich fühlte mich weiterhin passabel, muskulär war gar nichts zu spüren, also drückte ich doch etwas auf’s Gaspedal. Das führte dazu, dass ich an den leichteren Anstiegen einige kassieren konnte. Km50 – hier saß ich damals völlig fertig am Schild und wollte das Rennen Rennen sein lassen. Heute flog ich förmlich am Schild vorbei. Dann kam Janos in mein Blickfeld. War er doch zu schnell angegangen? Er hatte ein richtiges Tief und ich versuchte ihn zu motivieren, an mir dranzubleiben. Aber wie schon bei der Harzquerung, wo ich in seiner Situation war, ging es einfach zu diesem Zeitpunkt nicht und ich zog vorbei. Zum Glück erholte er sich von dem Tief sehr schnell und kam am Ende nichtmal 4min hinter mir ins Ziel! Auch an Phillip (Sieger 50k in Grünheide) lief ich vorbei. Wir plauschten noch später am Bahnhof in Erfurt über das Rennen.

 

Bild: rennsteiglauf.de


Der Rennsteig…

bietet eine Ausstiegsmöglichkeit mit Zeitnahme am Grenzadler in Oberhof. Wer meint, für die kommenden 20km bis nach Schmiedefeld nicht mehr gewappnet zu sein, kann hier alle Fünfe gerade sein lassen. Einen Kilometer vorher erkenne ich schon Falks Konterfei. Er begrüßt mich euphorisch. Was passiert hier gerade? Er scheint vollauf zufrieden mit der Zeit und rechnet mir vor, dass es bei dem Tempo auf 06:15-06:20 rausläuft. Ich will das aber partout nicht hören, so recht traue ich dem Braten noch nicht. Denn der höchste Punkt am Großen Beerberg wartet ja noch! Der VP ist schön gemacht, man wird namentlich aufgerufen, an Position 39 bin ich zu dem Zeitpunkt. Falk rät mir, mich langsam an jeden Vordermann ranzusaugen und so step by step noch ein paar einzusammeln. Und das klappt tatsächlich auf dem ersten Anstieg hinter dem Grenzadler.

 

Der Rennsteig…

wird auf den letzten 20km entschieden. Wer gut über den Großen Beerberg kommt und im Anschluß gut nach Schmiedefeld runterbrettern kann, der hat alles richtig gemacht. Hier wird es erstmals richtig schwer für mich. Ich erwarte die ganze Zeit das Schild “Höchster Punkt der Strecke”, aber es kommt einfach nicht. Oder ich übersehe es, wer weiß. Auf dem Aufstieg “verliere” ich ca. 10min auf meine Durchschnittspace. So what. Aber dann ist es endlich geschafft, der kleine neue Umweg in Richtung Schmücke läuft sich super und ich werde mit bester Laune am VP in Empfang genommen. “Wollen Sie ein Bier?” – “Erst im Ziel!”. Das erscheint mir doch sehr riskant und ein wenig ist ja noch zu laufen. Kurz hinter Schmücke bin ich damals auf Henrik aufgelaufen, die Stelle ist mir gut in Erinnerung. Es geht runter, zur Abwechslung auch mal auf einigen Trails. Und die Beine geben noch etwas her, also versuche ich, das Tempo zu forcieren. Ja, es war mittlerweile sehr warm, aber ich hatte komischerweise zu keinem Zeitpunkt mit den Temperaturen zu kämpfen.

 

So bin ich 2016 noch ins Ziel gekommen.


Der Rennsteig…

hält es für alle Helden bereit: “das schönste Ziel der Welt”. Nun, es ist auch nur einer der vielen Zielbögen dieser Welt. Aber auf den letzten 10km des Supermarathons wird man förmlich dahin getragen: die Wanderer kommen auf die Strecke und man wird unglaublich angefeuert, nicht stehenzubleiben und das Ding auch gut nach Hause zu bringen. “Läufer!” schallt es sekündlich vor mir, es wird sofort Platz gemacht, Kinder klatschen ab und es schallt “du siehst gut aus” oder “richtig klasse Leistung, nicht mehr weit”. Ich genieße das vollends und fliege gefühlt herunter. Ja, der letzte Anstieg ist fies, aber schocken kann es mich nicht mehr. Schmiedefeld kommt 3km vor dem Ziel in Sicht und nach den unzähligen Geraden und Kurven hört man den Sprecher. Ich laufe an meinen Vordermann heran, muss aber tatsächlich nochmal kurz gehen, als ich neben ihm bin. Dann geht es rein auf die Zielgerade. Die Uhr stoppt, ich freue mich riesig über die 06:27 und setze mich mit der Medaille an den Zaun. Versuche, das Ganze kurz zu verarbeiten. Dann kommt auch schon Janos rein und wir beglückwünschen uns gegenseitig (mir ist nicht klar, wie er das hinbekommt, nach einem Ultra wie frisch geduscht auszusehen). Das Finisher-Bier und -Shirt hole ich mir aber diesmal ab, Christian kommt etwas später rein und berichtet von “70km Leiden”. Ja, es ist kein Spaziergang, egal wie schnell man unterwegs ist. Mit Falk und seiner Crew tingele ich im Anschluß noch plaudernd durch die Menge, bevor mich der “Versehrten-Bus” mit runter nach Schmiedefeld nimmt und ich meine Heimreise antrete.

 


Der Rennsteig…

ist ein Rennen, bei dem man vorher nie genau weiß, wie es ausgeht. Auch diesmal war ich mir lange sehr unsicher ob des Ergebnisses. Es war gut, dass ich mich vorher auf keine Rechnung eingelassen habe. Nur ein gutes Rennen zu machen und zu schauen, was dabei am Ende rauskommt – diese Devise habe ich mir (natürlich) von Falk abgeschaut. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass die Erfahrung auf dem Rennsteig die wichtigste Komponente ist. Nicht umsonst werden viele im Laufe der Jahre immer schneller.

 

Der Rennsteig…

hat Suchtcharakter. Egal, wie es diesmal ausging, viele melden sich gleich für das nächste Jahr an. Mich hat das Rennsteig-Fieber dieses Jahr auch voll erfasst. Es war einfach schön, mit sovielen tollen Menschen dieses Lauf-Erlebnis zu feiern. Ich habe das sehr genossen. Danke Rennsteig, danke Ihr Lieben! Bis zum nächsten Jahr und dann natürlich wieder zu zweit!

 

P.S. Die vielen hübschen Bilder sind alle vom Foto Team Müller.

50km am Störitzsee

Am Störitzsee

Die Saison ist noch jung. Auf der Suche nach einer Herausforderung im März bin ich auf die Berlin-Brandenburgische Meisterschaft im 100km-Lauf gestoßen. Diese fand zum 4. Mal am Störitzsee statt, einem kleinen Idyll 20km östlich von Berlin im Ortsteil Grünheide. Das volle Programm, die 100km, wollte ich mir noch nicht geben, aber es sollte endlich mal eine vernünftige 50km-Zeit zu Buche stehen. Also schlug ich Punkt 6Uhr am Samstag nach einigem Umherirren im Störitzland auf und tingelte zur Startnummernausgabe. Wie auch immer ich das geschafft habe, dabei sind mir wohl mein Paar Wechselschuhe abhanden gekommen (die guten Peregrine!), jedenfalls habe ich sie später dann nicht mehr an der Tasche gehabt. So richtig wach war ich wohl noch nicht, als es um Punkt 06:30 auf die 5km-Runde ging. Dass meine Uhr nicht lief, bemerkte ich erst nach 1,5km. Das ging ja gut los, ohne Kaffee läuft bei mir so früh halt gar nichts.

Bild: www.harri-schlegel.com

Janos traf ich noch kurz vor dem Start, er vergewisserte sich nochmal, dass ich wirklich auf die 3h-Marathon-Pace anlaufen wollte. Ja, wollte ich. Martin und Dirk von der LG Nord Berlin schienen mir unerreichbar, aber das Podium hatte ich schon ein ganz klein wenig im Blick. Phillip wetzte schnell davon und keiner wollte das Anfangstempo mitgehen. Martin blieb erstmal bei Niels (Bubel), der für die 100km gemeldet war. Dirk machte sich auf die Verfolgung von Phillip und ich blieb erstmal mit Respektabstand dahinter. Die Pace war sogar etwas langsamer als die magischen 04:15/km und ich fragte mich, ob ich nicht doch etwas fixer anfangen sollte. Am Ende der ersten Runde lief ich auf Dirk auf und verfluchte mich innerlich selbst, als ich an ihm mit etwas Zwischengas vorbeiging.

Moderator Ecky Broy musste ich nur nach der ersten Runde mit meinem Namen auf die Sprünge helfen, ab da hatte er mich auf dem Zettel und wußte sogar, dass ich dieses Jahr schon bei der Brocken-Challenge gastiert bin. Sehr kurzweilig, immer bei Start/Ziel vorbeizulaufen! Die Strecke ging nach 2,5km in den Wald, ich hatte allerdings Schlimmeres befürchtet und zumindest die erste Hälfte ging es noch relativ matschfrei. Dann wurde es zunehmend schwerer zu laufen. Phillip konnte ich bis dahin immernoch sehen und Ecky gab mir auch jedesmal den Rückstand mit auf den Weg. Eine gute Minute war es bereits bei Halbzeit.

Moderator Ecky

Nach 25km und 5 Runden gönne ich mir das erste Mal eine Cola. So richtig fluffig geht es nicht mehr, aber so ein Marathon geht ja erst bei 30km los. Zwischendurch überrunde ich den Heiko, der sich heute innerhalb von 2 Wochen wiederholt am 100er versucht. “Gib Gummi” – ich muss schon ganz schön drücken, um die Pace zu halten. Heiko muss leider später nach 55km aufgeben. Auch Gyula treffe ich unterwegs wieder, er ruft mir “Brocken” zu. Ja, wir haben uns bei der BC getroffen, da hat er mich überholt und diesmal holt er sich souverän die 12h-Wertung mit 126km. Schließlich meldet sich noch Michael, er ruft mir zu, dass er mich vorher kontaktiert habe, aber ich will nicht so recht Tempo rausnehmen. Ja, es passiert einiges auf 50km!

Runde 8 und 9 sind einfach nur brutal, die Pace geht immer weiter runter und so langsam verliert man auch die Lust. Wenigstens den Marathon unter 3h packen, dann ist doch noch alles drin!? Als ich nach 42,2km auf die Uhr blicke, steht da 02:51 – äh ich habe ja zu spät gestartet! Die letzten 5km werden eingeläutet, Thomas steht im Ziel und gibt mir noch aufmunternde Worte mit. “Angriff jetzt Marek!” brüllt Ecky, aber ich konzentriere mich nur noch, keine Gehpausen mehr machen zu müssen. Auch Phillip lässt auf den letzten beiden Runden arg Federn. Ich kriege das nicht mehr mit, der Vorsprung ist aber auch zu groß, um nochmal in Schlagdistanz zu kommen.

Die letzten Überrundungen tuen richtig weh, viel Geschwindigkeitsüberschuß ist halt nicht mehr vorhanden. Als ich nach 03:33:59 die Ziellinie überquere, bin ich erstmal erleichtert, dass es vorbei ist. Sicherlich ist da gerade hintenraus noch viel Luft nach oben. Und da ich auch leicht angeschlagen ins Rennen gegangen bin, ist die Zeit am Ende absolut in Ordnung. Ich freue mich auf die kommenden Aufgaben, dann wird es aber wieder etwas bergiger und nicht ganz so fix!

Der offizielle Rennbericht von Helge Ziems ist hier zu finden. Wobei der “Zweikampf” doch etwas übertrieben ist, da ich zu keiner Zeit an Phillip dran war.

Kalt, hart, schön – meine erste Brocken-Challenge

Es muss irgendwo bei der 65km-Marke gewesen sein, als mich eine ältere Dame völlig entgeistert ansprach: “Wo wollen Sie denn hier noch hin?” Ich konnte nur eine Antwort geben: “Na zum Brocken natürlich!” – “Waaaaaaas, bis ganz hoch???” In dieser Art liefen auch die anderen kurzen Gesprächsfetzen ab, die auf dem langen Weg in Richtung Dach des Harzes des Öfteren vorkamen. Ungläubige Blicke, applaudierende Menschen, anerkennende oder bewundernde Worte, ein mitleidiges Lächeln – einfach alles war dabei. Und der Weg, er war verdammt lang.

Begonnen hatte die 15. Brocken-Challenge schon am Freitag Abend, als Markus, der Mitbegründer dieses 80km langen Ultramarathons von Göttingen auf den Brocken, mit seinen Söhnen im Hörsaal des Sportinstitutes zur Einstimmung auf dem Didgeridoo spielt. Nebenher fliegen Bilder der vorherigen Ausgaben dieses Wohltätigkeitslaufes vorbei, garniert mit motivierenden Zitaten aus der Ultra-Szene. Eine wohlige und stimmungsvolle Szenerie, bei der man schon vom ersten Moment an bemerkt: hier sind Menschen am Werk, die das Herz am rechten Fleck haben. Markus stellt die Spender und Spendenempfänger vor, Hecke erklärt mit einer unglaublichen Gelassenheit die Strecke, man fühlt sich einfach wohl und verschwendet keinen Gedanken daran, dass man diese Challenge nicht meistern kann.

Die Enttäuschung war durchaus vorhanden, als Henrik im Dezember bei der Verlosung der Startplätze leer ausging. Meine erste Reaktion war: dann laufe ich eben auch nicht. Zum Glück habe ich es mir dann doch anders überlegt. Und ich sollte es zu keinem Zeitpunkt an diesem Wochenende bereuen. Heute, einen Tag nach der Challenge, wirkt noch einiges nach und ich muss mich etwas sammeln, um die vielen Gedanken und das Erlebte irgendwie niederzuschreiben. Wo fängt man, wo hört man auf? Eine Chronologie des Laufes wirkt für mich immer zu platt und gibt kaum wieder, welch fantastisches Erlebnis dieser Lauf gewesen ist.

Bild: Michael Mankus

Aber was macht die Brocken-Challenge nun zu so etwas Besonderem? An erster Stelle stehen zweifelsohne die Menschen. Was hier vom veranstaltenden Verein, dem ASFM Göttingen, auf die Beine gestellt wird, ist großartig. Ob es die Strippenzieher im Hintergrund oder die unglaublich hilfsbereiten und zuvorkommenden Menschen an den Verpflegungsständen auf der Strecke sind: jeder leistet hier seinen Beitrag, damit dieser Lauf für jeden einzelnen Teilnehmer zu einem unvergesslichen Erlebnis wird. Aber auch die Läufer tragen dazu bei, dass man sich hier als Newcomer nicht verloren fühlt, sondern weiß: die anderen hier sind genauso bekloppt wie du (und machen das auch freiwillig). Falk, der schon mehrfach bei der BC auf dem Podium stand (davon will er immer nix wissen), nimmt mich schon am Freitag beim Check-In an die Hand und trichtert mir gebetsmühlenartig ein, dass ich mir doch keine Sorgen machen muss und wir quasi einen kurzen Spaziergang da hoch auf den Brocken machen werden. Alles gut. Wir machen das. Wenn ich mir von dieser Gelassenheit doch bloß eine Scheibe abschneiden könnte – mir geht die ordentlich die Pumpe. Wenn man so in die Runde blickt, dann würde man niemals erraten, was diese Leute denn da am nächsten Morgen vorhaben: 80km nonstop von Göttingen auf den Gipfel des Harzes zu rennen.

Dass es kein Kinderschminken wird, weiß natürlich jeder von uns. Als wir dann um kurz nach 6 an den Fackeln vorbei in den Göttinger Wald laufen, ist die Aufregung aber etwas verflogen. Ist ja nur Laufen, das kann ich doch ein wenig?! Bis zum Harzrand bei Barbis, der Marathonmarke, fängt das Rennen gar nicht an. Mein Plan, mit Falk bis dahin halbwegs kontrolliert zusammenzubleiben, zerschlägt sich schon kurz nach dem zweiten VP bei Rollshausen: wir müssen an der Tilly-Eiche im Weg liegende Bäume umkurven. Ohne auf die Uhr zu schauen (dank der ganzen Kletterei), folge ich meinem Vordermann und wir stehen plötzlich ohne Weg im Wald. “Das kann doch nicht stimmen!?” Auch unser Hintermann kennt den Weg nicht. Nach einigem Hin und Her finden wir aber zum Glück wieder auf die Strecke. Nur Falk, der war natürlich über alle Berge. Ich muss mich kurz sammeln und versuche, wieder in den Rhythmus zu kommen. Es fällt schwer.

Die vegane Bratwurst, die ich mir an VP3 bei km31 schnappe, kriege ich kaum runter. Aber ohne Energie komme ich hier heute nicht weit. Das Angebot an tierleidfreien Snacks an den VPs ist für mich schier überwältigend. Riegel, Schokolade, Kuchen, Kekse, Brühe – oft fällt es schwer, sich überhaupt für etwas zu entscheiden, so groß ist die Auswahl. Das habe ich bei einer Laufveranstaltung noch nie so erlebt. Auf dem Weg nach Barbis kommt leider schon mein erster Hänger. Die ersten steileren Rampen muss ich hochgehen und ich quäle mich schon etwas, als ich endlich Barbis erreiche.

“Ab hier ist es Ultra – 42196m” – steht auf dem Schild, als ich Barbis nach der längeren Verschnaufpause wieder verlasse. Ich schaue nicht auf die Uhr, bin aber sicher, dass ich die geplanten 03:30 um einiges verfehlt habe. Warum, kann ich mir nicht so recht erklären. Keine guten Voraussetzungen für den jetzt kommenden “Entsafter I”. Hier geht es langsam und stetig bergauf und zieht einem die Kraft aus dem Körper, daher diese Bezeichnung. Und nun kommt auch der Schnee: beginnend mit einer leichten Schneedecke, die sich im weiteren Verlauf immer weiter füllt und bei ca. km50 komplett geschlossen ist. Ich bin lange allein unterwegs, frage mich immer, warum denn keiner von hinten kommt, so langsam bin ich. Ich hole die Stöcker raus, denke, ich kann mich so besser fortbewegen. Bis zum Jagdkopf bei km53 zieht es sich. Vor dem VP ziehen dann doch einige an mir vorbei. Die Brühe tut jedenfalls mal richtig gut. Erst Tee, dann Cola, die Lebensgeister sind wieder geweckt.

Kurz hinter dem Jagdkopf wechsele ich auf die Spikes. Wie hier manche ohne schnell hochgekommen sind, bleibt mir ein Rätsel: links und rechts ist die Strecke vereist und in der Mitte befindet sich knöcheltiefer Schnee. Damit geht es etwas besser. Dann das nächste Problem: meine Finger vereisen an den Stöckern zusehends. Wenn man nicht am Griff anfasst beim Laufen, ist es bei den Bedingungen zu kalt. Ich muss meine Entscheidung revidieren und verstaue die Dinger wieder im Rucksack. Zum Glück habe ich noch das zweite Paar Handschuhe dabei. Bis Lausebuche bei km63 läuft es dann aber einigermaßen fluffig. Ist auch kein Wunder: hier gehts tatsächlich nochmal runter. Schmerzen – ohne die geht es beim Ultra nicht. Die Frage ist nur, wann sie kommen. Mein rechter Oberschenkel beschwert sich zunehmends. Aber ich denke mir: es geht ja nur noch rauf, da braucht es sowas doch nicht.

Von Lausebuche bis Königskrug geht daher leider wenig: die 5km kann ich kaum laufen, gefühlt zieht das halbe Feld an mir vorbei. Das und auch die Zeit werden aber im Laufe eines solchen Rennens nebensächlich. Schmerzen kommen. Und gehen. Und kommen an einer anderen Stelle wieder. Dafür muss der Kopf bereit sein. Ich schaue mich trotzdem immer wieder um und versuche, den Moment auszukosten: was habe ich nur für ein Glück, hier in dieser schönen Landschaft meiner Leidenschaft mit so vielen anderen nachgehen zu können? Welch wahnsinnige Motivation ist es, zu wissen, dass einem soviele Menschen die Daumen drücken und ganz fest daran glauben, dass man diese Herausforderung meistert? Habe ich noch Zweifel, das Ziel, den Brocken, zu erreichen? Nein, nicht eine Sekunde verschwende ich an diesen Gedanken. Ich laufe da oben durchs Ziel. Punkt.

Bild: Michael Mankus

Hinter Königskrug geht es dann auf die Loipen: links und rechts brausen die Skifahrer herunter, wir ziehen durch die Mitte hoch. Und das läuft sich teilweise richtig fies. Mit einem Kollegen nehme ich nochmal eine falsche Abzweigung (im Nationalpark darf nicht markiert werden), die wir aber schnell korrigieren können. Dann wird es einstellig bei der Kilometerzahl auf der Uhr. Ich mache mir bewußt, dass ich soweit ja noch nie gelaufen bin und freue mich wie ein kleines Kind auf den Gipfel. Es ist ja nicht mehr weit!

Bild: Fam. Matzke

In Oderbrück, dem letzten VP, verwechselt mich Maren mit Henrik. So ist das eben, wenn man einen genauso verrückten Zwillingsbruder hat. “Und jetzt geht es nur noch: naaaaaaaach ooooooooooooooooben!” Diese gute Laune ist unglaublich ansteckend und lässt die Anstrengungen der letzten Stunden vergessen. 370 HM verteilen sich nun auf 7,6km. Laufen, gehen, laufen, gehen. Wer hier noch durchlaufen kann, hört entweder auf den Namen Florian (Reichert) oder hat alles richtig gemacht zuvor. Und irgendwie geht es auch ganz gut voran, zumindest bilde ich mir das ein. Ich kann sogar noch einige einsammeln, bevor es auf den letzten Kilometer der Brockenstraße geht.

Das Zielbanner ist im dichten Nebel kaum zu erkennen, doch mit diesem Team am Ziel kann man auch das nicht verfehlen. Was geht einem durch den Kopf, nachdem die Uhr bei etwas mehr als 9h gestoppt ist? Erleichterung, dass es endlich vorbei ist. Stolz, diese Leistung erbracht zu haben. Enttäuschung über die nicht erreichte Zeit. Vor allem aber große Dankbarkeit, dieses erleben zu dürfen. Mit der Unterstützung von so vielen, ob hier unten oder von ganz weit oben.

“Grenzen gibt es nur im Kopf.” Das steht auf der Rückseite der Medaille und bei dieser, meiner ersten Brocken-Challenge, ist mir erst richtig bewußt geworden, wie sehr das stimmt.

Transgrancanaria 2017 LIVE

Zum fünften Mal geht es für Henrik über die größte Insel der Kanaren. Und diesmal es ist das volle Programm: nach zweimal Marathon und zweimal Advanced (83k) sind diesmal stolze 125k und 8000 Höhenmeter zu bewältigen. Wir halten Euch auf dem Laufenden, wie es Henrik ergeht. Startschuß ist um Mitternacht, das ist um 23Uhr deutscher Zeit.