“Auf ein ganz besonderes Erlebnis” schrieb mir Laufcoach und Eventorganisator Michael Raab zwei Tage vor dem “Zugspitz-Gipfelsturm” auf meine naive Frage, worauf ich Idiot mich denn da eingelassen habe. In der Beschreibung dieses Gemeinschaftslaufs ohne Wettkampfcharakter heißt es:

“117 Kilometer, über 3.500 Höhenmeter – Munich to the Top of Germany, das sind die Fakten des härtesten Nonstop-Ultralaufs auf die 2.962 m hohe Zugspitze. Start ist am Freitagabend, den 4. August um 20 Uhr bei Globetrotter am Münchner Isartor, Ziel am nächsten Tag um 16 Uhr das Weißbier auf dem Gipfel. Wie hart der Lauf ist, belegen die bisherigen Finisher-Zahlen: In vier Auflagen haben es nur sechs Athleten bis ganz nach oben geschafft. Zuerst geht es flach durch die Nacht Richtung Süden, dann romantisch durch die Partnachklamm, idyllisch durch das Reintal und an dessen Ende brutal in Richtung Gipfel.”

Mich hatten die Berichte aus den Vorjahren fasziniert und immer wieder kam der Gedanke auf, dass ich das auch machen will. Einmal nonstop von meiner Wahlheimat München aus auf den höchsten Gipfel Deutschlands, was muss das für ein Erlebnis sein! Wie sich in den 21,5 Stunden ab Freitagabend dann herausstellte, nicht nur ein ganz besonderes. Ein emotionales, verrücktes und vor allem körperlich wie mental extrem herausforderndes.

Eigentlich hatte ich beschlossen, erstmal bis Garmisch zu kommen, also fast 100 Km durch die Nacht. Dort könnte ich dann aussteigen, im Falle, dass es mir körperlich nicht mehr gut geht und ich mir den Aufstieg nicht zutrauen würde. Das “eigentlich” zerstob jedoch von Kilometer zu Kilometer.

Vorgeplänkel

Leider hatten sich wegen Verletzungen und Krankheit nur vier Gipfelanwärter eingefunden, als Michael am Freigabend kurz vor Ladenschluss im Globetrotter die Meute begrüßte. Zwei sehr erfahrene Ultraläufer mit Axel und Andreas, die schon so ziemlich jeden Ultratrail auf diesem Planeten gesehen haben. Dazu gesellte sich Mario aus Berlin, der noch vor kurzem den ZUT mit 102 Kilometern in einer sehr beachtlichen Zeit abgerissen hatte. Rein sprachlich hatte ich also schnell meinen Laufpartner gefunden.

München Isartor – Grünwald

Km 12,7

Michael drängte zum Aufbruch – erfahrungsgemäß würden wir jede Minute brauchen und auch ein paar Minuten mehr Tageslicht sind nicht schlimm. Um 19:40 Uhr setzte sich der Tross in Bewegung. An der Isarkreuzung rief Brigitte nach mir, die zum Startschuss um 20:00 Uhr vorbeikommen wollte. Hätte ich das gewusst! Wir trailten gemütlich auf der Westseite der Isar stadtauswärts, der Trubel ließ schnell nach und wir konnten uns auf das Einrollen konzentrieren. Das Anfangstempo von etwa 5:40 min/Km war natürlich lächerlich hoch. Vor dem Schlosshotel Grünwald erwartete uns der Tourbus mit der ersten Erfrischung. Wir holten die Lampen raus, denn nun wurde es schnell dunkel.

Grünwald – Schäftlarn

Km 22,4

Hinter Grünwald hatten wir die ersten Probleme, den Trail runter zur Isar zu finden. Mario verloren wir erstaunlicherweise 20 Minuten nach dem Verpflegungspunkt. Er wollte nur seine Stirnlampe auspacken. Wir warteten etwa 10 Minuten und riefen, aber kein Mario in Sicht. Also trabten wir erstmal zu dritt weiter. Ich machte für ein paar Minuten die Vorhut und trat natürlich voll in den Schlamm. Zwischen Isarkanal und Isar ist der Weg recht eintönig. Axel und Andreas unterhielten sich sehr angeregt über ihre zahlreichen Ultra-Erlebnisse und ich musste nur zuhören. Ich dachte mir, das wird schon weniger werden im Laufe des Rennens – weit gefehlt. Eine wahre Weltreise durch die Ultraläufe unternahmen die beiden. Wir kreuzten den Kanal beim Mühltaler Isarkraftwerk und liefen nach etwa 2,5h vor dem Bruckenfischer ein. Michael lotete Marios Position aus, der üppige 3 Km zurückhing und zu diesem Zeitpunkt noch mit dem ausgedruckten Trailbook hantierte. Die Truppe beschloss, erstmal weiterzulaufen und in Wolfratshausen zu beraten.

Schäftlarn – Wolfratshausen

Km 31,4

Am Ickinger Wehr verließen wir nun die Isar, die Loisach würde nun für eine Weile unser Begleiter sein. Ein schöner Trail führt direkt zu den Treppen auf das Hochufer. Die Abwechslung war willkommen und die ersten ehrlichen Höhenmeter des Abends geschnupft. Die Stimmung war bestens, an der Strecke der S-Bahn liefen wir direkt in die City. Eine fast sternenklare Nacht hatte Michael bestellt. Und die bekamen wir. Allerdings auch eine sehr warme. Das Thermometer fiel nicht unter 15 Grad. Mehrmals hätte ich mich gerne in einen Fluss gesetzt. Am Checkpoint beschloss die Gruppe, nun auf Mario zu warten. Noch mehr Abstand herauszulaufen, wäre unsinnig, da Michael dann mit den Checkpoints in Schwierigkeiten käme. Außerdem wussten wir alle, dass dieser Lauf ganz allein nicht zu schaffen wäre. Gute 45 Minuten später traf Mario ein und freute sich sehr, als er uns sah. Die Gruppe war nun wieder komplett.

Wolfratshausen – Beuerberg

Km 42,1

Beim Einkuppeln jammerte die Gruppe zum ersten Mal etwas lauter – die ersten 32 Km waren dann doch nicht so ganz ohne Wirkung ins Land gegangen. Wir passten das Tempo nun etwas an. Ein langes und recht eintöniges Stück stand uns am Loisachkanal bevor. Beim nächsten Checkpoint in Beuerberg würde bereits der Marathon absolviert sein. Alle waren gut eingerollt und weiterhin herrschte Optimismus vor. Ich lief etwas voraus, weil ich für ein paar Kilometer etwas Ruhe haben wollte. Am Kanal war etwas kühler. In Beuerberg wurde es etwas welliger. Hätte Michael an der Feuerwehr nicht gerufen, ich wäre am Tourbus vorbeigelaufen. Das erste Erdinger alkoholfrei gönnte ich mir nun. Mario schickten wir ein paar Minuten früher wieder auf die Reise, damit er etwas Vorsprung rauslaufen konnte.

Beuerberg – Penzberg

Km 52,4

Eine ganze Weile folgten wir nun dem Radweg an der Landstraße, ich fand die Abwechslung mit dem Asphalt nicht sooooo schlecht. Ich verabschiedete mich kurz ins Gebüsch, so ganz hatte sich der Magen noch nicht beruhigt. Einige Hügel gingen wir nun bereits hoch, um Kräfte zu sparen. Die Nacht würde nicht mehr allzu lange dauern. Obwohl ich seit Freitagmorgen wach war, spürte ich noch keine Müdigkeit. In der Gruppe war es durchgehend unterhaltsam. Und wenn wir mal wieder an einem Kuhstall vorbeiliefen, diskutierten wir über vegane Ernährung, Massentierhaltung und über was sich Läufer halt so unterhalten. Vor dem Sport Conrad in Penzberg City erwartete uns Michael, der ein Schläfchen auf der Parkbank eingelegt hatte. Ein Gruppe Jugendlicher fragte uns, wohin es denn gehe. Ob sie wirklich verstanden hatten, wohin wir unterwegs waren, ich weiß es nicht.

Penzberg – Großweil

Km 63,4

Wir zählten langsam die Kilometer bis zum Frühstück runter. In Sindelsdorf verloren wir kurz die Orientierung, bevor wir zu dritt auf den Forstweg entlang der Autobahn bogen. Nebelfelder begrüßten uns – eine ganz besondere Atmosphäre. Der Sonnenaufgang war nicht mehr weit. Mario lief dankenswerterweise mit einem roten Rücklicht, das wir erst spät kurz vor Großweil ausmachen konnten. Entweder hatten wir arg getrödelt oder er richtig Fahrt aufgenommen. Ich freute mich auf Großweil, waren wir auf unseren Ausflügen oft in der Kreut-Alm zu Gast. Mich beruhigt es immer sehr, wenn ich Wegpunkte schon kenne. Vorher durften wir uns aber beim Checkpoint verpflegen. Ich hatte Hunger, weil ich schon eine Weile nichts mehr gegessen hatte. Also rein mit Banane, Clif, Salzstangen und Gel. Mich freute die Aussicht auf das Ende der Nacht und den Kaffee in Ohlstadt. Da der Bäcker dort um 6:00 öffnete, brauchten wir uns nicht sonderlich beeilen.

Großweil – Ohlstadt

Km 71,6

Wir gingen gemütlich hoch zur Kreut-Alm. Dieser recht kurze Streckenabschnitt bedeutete immerhin 342 Höhenmeter und einen ziemlich zerrupften Trail oberhalb von Großweil. Insgesamt aber ein sehr schöner, abwechslungsreicher Teil. Längere Downhills luden zum Laufen ein und unsere Gruppe blieb weitgehend zusammen. Die Stirnlampen wurden nach dem Wald ausgeschaltet und als wir um 06:05 Uhr in Ohlstadt einliefen, war es taghell. Jeder Ultraläufer kennt das, wenn die erste Nacht überstanden ist, gibt das einen regelrechten Schub. Der heiße Kaffee tat allen sehr gut und wir hätten wohl noch eine halbe Stunde gesessen, wenn der “Race Director” nicht erbarmungslos zum Aufbruch gerufen hätte. Garmisch war nur noch einen Halbmarathon entfernt!

(c) Laufcoaches.com

Ohlstadt – Oberau

Km 85

Die Beine wurden zwar immer schwerer, aber die Landschaft immer schöner. Ein langer Forstweg führte uns aus Ohlstadt raus, auf dem wir es gut laufen lassen konnten. Wobei laufen halt relativ ist, mit 5:11 min gelang mir hier der schnellste Kilometer des gesamten Laufs. Ein Fuchs kreuzte meinen Weg. Schöne Trails führten uns runter nach Eschenlohe. Die Sonne knallte nun schon erbarmungslos. Michael lauerte auf einem Singletrail und knipste die Verrückten. Hinter Eschenlohe wartete ich zusammen mit drei jungen Kühen auf die Meute. Einige Abschnitte gingen wir nun, hielt die Strecke doch den einen oder anderen vertikalen Meter bereit. Erst die drei Kilometer vor dem Checkpoint rollte die Crew wieder ein. Meine Uhr zeigte 83,5 Km an, als ich das Beachflag von La Sportiva erblickte. Michael erklärte uns nun eine neue Wegvariante, nur wirklich aufnahmefähig war kaum noch jemand. Das Zwischenziel Garmisch war nun greifbar nah. Ich hatte das Gefühl, wir lagen sehr gut in der Zeit.

Oberau – Garmisch

Km 95

Etwa einen Kilometer auf dem Wasserfallrundweg, bis wir uns auf dem ersten Golfplatz des Weges nicht mehr sicher waren. Erst Axels Blick auf die elektronische Karte zeigte, dass wir uns den Abstecher in den Bachlauf hätten sparen können. Nicht weiter schlimm, aber etwas Zeit verloren wir nun doch. Hinter dem Golfplatz sahen wir Mario und fanden dann schnell wieder auf den geplanten Weg. Merke: spontane Routenabweichungen nach 85 Km sind keine gute Idee. Vorbei an den “Ursprüngen” mit malerischen Moos-Biotopen kämpften wir uns weiter voran. Jetzt hatten es Bremsen auf uns abgesehen, die in Wassernähe gnadenlos zustachen, selbst durch die Wadenschoner durch. Der “Philosophenweg” ist ein wunderschöner Weg mit allerlei Schautafeln, allein, wir hatten keine Zeit dafür. Er schlängelte sich mal hoch und mal runter und langsam war klar, wo denn die über 1.000 Höhenmeter bis Garmisch herkamen. Oberhalb von Garmisch begann dann der “Atemweg”, dessen Lehrtafeln uns sicher weitergeholfen hätten, denn die Crew war schon ziemlich außer Atem. Der Streckenabschnitt hat alle Chancen, zum schönsten der Route gekrönt zu werden. Als wir um kurz nach 10 Uhr den Norma in Garmisch erblickten, machte sich deutliche Erleichterung breit. Doch alle wussten, das war erst der Auftakt. Wir wechselten nun das Laufoutfit. Ab sofort war Jan mit von der Partie, den ich -wie sich später herausstellte- bereits 2014 auf Gran Canaria getroffen hatte.

Garmisch – Zugspitze

Km 117

Finale furioso – in sechs Stunden von Garmisch rauf zur Zugspitze? Ich fühlte mich danach, als wenn das machbar wäre. Zu fünft brachen wir auf, alles andere als geschmeidig setzte sich der Tross unter lautem Ächzen in Bewegung zur Partnachklamm. Hier war es erwartungsgemäß ziemlich voll und wir kamen nur sehr langsam durch. Auf dem ersten Steig, der Abkürzung zur Bockhütte, merkte ich schon, dass es verdammt hart werden würde. Die Gruppe kletterte vorbei und ich musste mich mehrmals sammeln. Michael lief dahinter auf, er hatte den Tourbus am Bahnhof geparkt und stürmte nun mit auf den Gipfel.

Allein der eigentlich leichte und gut laufbare Abschnitt bis zur Bockhütte kostete mich fast die letzten Reserven. Das Essensangebot war dürftig und so beschränkte ich mich den ab jetzt üblichen einen Liter Cola. Jetzt galt es in Meilensteinen zu denken. Bis endlich die Rheintalangerhütte erreicht war, dauerte es eine Ewigkeit. Michael, Axel, Andreas und Jan liefen vorweg, dann folgte ich mit Respektabstand und dann Mario.

Auf der Hütte bestellte ich mir einen Teller Nudeln, denn jetzt folgte mit dem Rheintalangersteig der Stöpselzieher. Es ging mir nicht gut, die schnellen Vier flogen schon auf den ersten Serpentinen vorbei und nur wenig später setzte so heftiges Nasenbluten ein, dass die nachfolgenden Wanderer gedacht haben mussten, ich wäre verblutet. Erfahrungsgemäß hilft nichts weiter als zu warten. Und so zogen die Minuten ins Land. Ich kletterte langsam, sehr langsam weiter. Die Uhr ging leider bei Km 116 aus, so dass ich jetzt nur noch die Uhrzeit ablesen konnte. Wenn man bis 15:30 Uhr auf der Knorrhütte ist, dann ist der Gipfel noch drin. Aber zwischen mir und dieser Hütte lag ein gefühlter Transalpine-Run.

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Jeder Schritt bringt dich dem Ziel näher und als ich endlich die Knorrhütte erblickte, kamen die Lebensgeister zurück. Mario kehrte gerade ein und die anderen vier begaben sich gerade auf den Aufstieg zum Sonnalpin. Mario hatte bereits resigniert, aber ich machte ihm Mut und versuchte ihm einzureden, dass das noch schaffbar ist. Um 15:15 Uhr brachen wir auf. Wie so eigentlich jeden Abschnitt hatte ich diesen leichter in Erinnerung, aber geschenkt gab es hier heute nichts mehr, keinen einzigen Höhenmeter. Die Nudeln wirkten jetzt endlich und ich kletterte zügig weiter. Mit jedem Meter wurde ich sicherer, dass ich ankommen würde und verdrängte das Schreckgespenst “er hatte es nur bis zum Zugspitzblatt geschafft”. Nach 50 Minuten lag Sonnalpin vor mir und die Truppe stand am Geröllhang. Michael fragte, ob ich es versuchen würde. Was für eine Frage! Axels Schlachtruf “Holen wir sie uns!” ertönte.

Das schlimmste Stück ist der Geröllhang am Anfang. Hier rutscht man immer wieder weg und muss auf alle Viere. Ist das Seil erstmal erreicht, geht es etwas leichter. Auf halber Strecke sah ich Mario auf den Hang klettern. Ein paar Nike Free-Touristen im T-Shirt überholte ich noch. Immer schön am Seil festhalten, die Trittsicherheit war grenzwertig. Und dann sah ich Michael mit der Kamera. Um 17:00 Uhr nahm Race Director Raab zu Protokoll, dass Henrik Lange ein Gipfelstürmer ist. Etwa eine halbe Stunde später traf mit Mario auch der vierte Teilnehmer ein, der vor mehr als 21 Stunden in München auf eine unglaubliche Reise gegangen ist.

(c) Laufcoaches.com

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Nachbearbeitung

Der Schmerz geht, der Stolz bleibt. Passt auch hier wieder wunderbar. Es geht beim “Gipfelsturm” nicht um die Zeit, es geht noch mehr als bei jedem anderen Rennen um das Ankommen. Um das intensive Erleben. Um die Faszination, wie sich innerhalb von Stunden ein Spirit bildet. Die “Truppe” wurde im Laufe des Rennens zu einem Team. Klar kann man das verrückt nennen, 120 Kilometer mit 3,5 Höhenkilometern zu laufen und sich dabei eine Nacht um die Ohren zu schlagen. Bis man es einfach macht. Und als wir mit der letzten Zugspitzbahn des Tages unter den Eindrücken des “Zugspitz-Gipfelsturms” herunterfuhren, war ich sehr, sehr froh, dass ich es einfach gemacht habe.

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