Bianca stürzt peitschend voran durch das Marathontor. Sie gibt alles. Im kurzen Tunnel schallt „ein Hoch auf uns“ in der Dauerschleife aus den Lautsprechern, ein paar billige bunte Scheinwerfer versuchen so etwas wie Stimmung zu erzeugen. Welcher Marathonläufer hat dafür noch Nerven? Jedenfalls keiner, der um die wertvollen Sekunden kämpft und förmlich um sein Leben rennt. Wer dachte, es geht jetzt auf die Stadionbahn, irrt. Nur noch die Zielgerade besteht aus Tartan, der Rest der Runde ist Asphalt. Ich laufe möglichst weit innen, Bianca ermahnt mich, auf die Stelzen der Absperrgitter aufzupassen. Jeder Zentimeter zu viel ist zu viel, auch nach mehr als 42.000 Metern. Und dann sind wir plötzlich über die Zeitmatte. –ENDLICH- ist diese Quälerei vorbei. Stehenbleiben ist so ein wunderbares Gefühl.
Das Faszinierende am Marathonlaufen ist die groteske Widersprüchlichkeit zwischen der Erwartungshaltung vor dem Start und dem Empfinden in der Schlussphase des Laufs.
Kilometer 37 auf der Ludwigstraße. Eigentlich sind es nur noch lächerliche 5.000 Meter bis zur Ziellinie. Aber jeder Marathonläufer weiß, dass diese verbleibende Strecke schier unendlich lang erscheinen kann. Die Beine kleben an der Straße, die Muskelatur in den Oberschenkeln signalisiert, dass sie im nächsten Moment verkrampfen wird. Längst beschränkt sich das Blickfeld auf maximal 5 Meter voraus. Zurufe von den Zuschauern prallen ohne Reaktion ab. Keine Kraft mehr, um die Zwischenzeiten abzulesen. Was soll man auch mit diesen Informationen noch anfangen? Der Körper ist im Überlebensmodus. Und immer wieder die Frage, warum macht man das nur? Es ist schon faszinierend, dass selbst in den furchtbarsten Momenten -und die kommen erst ab Km 30- nicht einmal der Gedanke ans Aufgeben hochkommt.
Das Verpflichtende am Marathonlaufen ist der Zieleinlauf, man tritt nur mit der Option an, den Lauf nach 42,2 Kilometern zu beenden.
Vor dieser Schleife hatte ich mich gefürchtet. Hinter Km 32 geht es nochmal links ab auf eine Extrarunde vorbei am Königsplatz. Ein sehr schöner Platz, der den Kilometer 35 nicht verdient hat. Richtig wahrgenommen habe ich ihn leider nicht mehr. Es ging hier schon um das Gelingen von Plan C. Längst war der „Ofen aus“ und ich lief seit der Sendlinger Straße nur noch mit Restwärme. Gregor war verschwunden, warum war mir nicht klar. Deshalb hielt ich an den Verpflegungspunkten nun an und trank alles, was ich greifen konnte. In einem dieser Momente flog der 3:15h-Zeitläufer an mir vorbei. Ich wusste seit Km 30, dass es jederzeit passieren konnte. Die Pace lag nun bei ca. 4:45, Plan C war aktiviert und es waren alle Chancen da, den ins Ziel zu bringen. Also lieber ein wenig langsamer laufen und dann auch ankommen.
Das Wunderbare am Marathonlaufen ist, dass man viel Zeit hat, alle möglichen Optionen gefühlte einhundert Mal durchzuspielen.
Das Ergebnis meines 1. München Marathons ist ja bekannt. Zum dritten Mal lief ich auf die 3:15h an, zum dritten Mal kräftig dran vorbei. Dabei lief es richtig gut los. Viereinhalb Minuten pro Kilometer waren angedacht bis Kilometer 15. Das klappte fast sekundengenau. Eigentlich ist der erste Teil eines Marathons regelrecht langweilig. Bei Km 17 verlässt die Meute den Englischen Garten und nimmt Kurs auf den Montgelaberg, der einzigen nennenswerten Steigung auf der Strecke des München Marathons. Es geht gute 500 Meter recht kräftig nach oben. Es wird gepumpt, niemand will auch nur eine Sekunde seiner Zeit hergeben. Ich überhole einige Läufer, die mich schon seit dem Start begleiten, ein Mann in silbergrauem Shirt mit blauem Cap, der stoisch die 4:30 min pro Kilometer hält. Er wird mir auf der Rosenheimer Straße enteilen. Und er wird auf den letzten Kilometern noch stärker als ich einbrechen, so dass ich ihn 1000 Meter vor dem Ziel tatsächlich noch überhole. Ein älterer Läufer mit orangen Kompressionssocken, der auf die Ludwigstraße gehen muss und der trotzdem lange vor mir im Ziel sein wird. Gregor fährt voraus und hält an, um mich zu knipsen. Es ist noch genug Luft zum Posen. Gleich kommt ja die Halbzeit.
Das Gemeine am Marathonlaufen ist, dass man auf der Hälfte der Strecke noch nicht weiß, wie das Ganze noch ausgehen wird, man hat eine Vorahnung, mehr nicht.
Eine fiese Passage ist die Strecke durch den Englischen Garten. Ich mag den „EnGa“ sowieso nicht sonderlich, dieser „Garten“ ist mir zu weitläufig, die Beleuchtung ist mau und die Wegführung verwirrend. Wer sich nicht auskennt, sollte nicht im Dunkeln da reinlaufen. Die Kilometer 5 bis 17 führen aber unweigerlich im Zickzack durch die riesige Anlage. Der Marathon unter Ausschluss der Öffentlichkeit – hier wird er Realität. An den schmalen Wegen finden sich an zwei Händen abzählbare Zuschauer ein. Der Weg ist schmal und Gregor muss vor den engen Kurven mehrmals zurückbleiben, um keine Läufer zu behindern. Immerhin ist es kein Schotterweg und die Bäume spenden noch Schatten. 10 Km laufe ich knapp unter 45 Minuten – perfekt. Eine Zeitmatte bei 15 Km gibt es nicht. Man muss hier halt durch.
Das Ironische am Marathonlaufen ist, dass die erste Hälfte regelrecht langweilig ist und man in Gedanken verfällt, während man später keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.
Um 9:55 Uhr klettern Georg und ich über das Gitter in den Startblock A. Wir sind euphorisch, es ist noch angenehm kühl, wir haben richtig gut trainiert in den letzten Wochen, eine Bestzeit nach der anderen eingesammelt. Was soll schon schiefgehen heute? Ich hatte mir die Marschtabelle zurechtgelegt (4:30 min/Km), hatte berücksichtigt, dass ein Marathonläufer immer einen Plan B (nahe 3:15h) in der Tasche haben muss. Deshalb habe ich gleich noch einen Plan C (Bestzeit) mitgenommen. Noch nie habe ich mich so gut gefühlt, noch nie habe ich das Trainingsprogramm ohne ein einziges Wehwehchen absolviert, noch nie habe ich so viele Trainingskilometer im avisierten Marathontempo gelaufen.
Das Ärgerliche am Marathonlaufen ist, dass gutes Training nur die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für einen Bestzeitlauf darstellt.
Zufrieden war ich unter dem Strich schon. Es war vielleicht mehr drin. Aber erfahrungsgemäß machen mir höhere Temperaturen zu schaffen und der Sonntag war ein überdurchschnittlich warmer Tag. 10 Grad weniger und… lassen wir das. Ich pirsche mich halt langsamer als geplant an die 3 Stunden heran. Vielleicht wird es schon im Winter eine weitere Gelegenheit geben. Und dann gelingt Plan A. Vielleicht.
Die BESTZEIT steht und nur das zählt!
Und ich “peitsche” wirklich ganz sanft, tut auch fast nicht weh – richtig Henrik ;-)?!
Stimmt schon, Bianca, die Schmerzen fügt man sich ja selbst zu. Aber du hast es gemerkt, die Aufnahmefähigkeit war nur noch begrenzt. Und die letzten beiden Kilometer waren wirklich schneller.
ein sehr schöner Bericht. Die Bestzeit wirst du auch noch knacken! Das Wetter war leider auch mir viel viel zu heiß, aber das kann man sich eben nicht immer aussuchen.
Das Wetter war natürlich für alle gleich (warm), aber die einen mögen es mehr, die anderen weniger. Für die Zuschauer war es TOP.
Gratulation zur Bestzeit! Ein wirklich sehr schöner Bericht mit vielen Marathon-Wahrheiten. Mal sehen, wie es mir in einer Woche in Frankfurt geht – so richtig Mut gemacht hat mir dein Bericht jetzt nicht 😉
Soll dich nicht entmutigen, Andreas. Du bist erfahren genug (im Gegensatz zu mir) und weißt ganz genau, was da auf dich zukommt. Viel Glück!
Wirklich schön erzählt! In der Sendlinger Straße hat’s mir auch den Stecker gezogen, und auch ich schiebe das auf die Wärme, vor allem, weil sie für mich unerwartet kam. Mein langsamster Kilometer war fast eine Minute langsamer als mein schnellster. Dann noch 2:59 ins Ziel gerettet – Happy End. Grüße von Tobias
Hallo Tobias, Glückwunsch zum Happy End, große Zeit, das ist ja nochmal eine andere Liga, in der du läufst. Im nächsten Jahr haben wir 10 Grad weniger, ganz sicher ;).
Gratuliere zur Bestzeit… und das mit Plan A klappt dann einfach 2015 – ganz sicher!
Wo gäbe es im Winter noch Chance die Sub3 zu machen?
Ruben, erstens ist Plan A nicht sub3 und zweitens habe ich das im Winter auch nicht vor. Am 1.2. gibt es einen schönen Marathon in Bad Füssing, den ich bei guter Form vielleicht mitnehmen werde.
Das Ding hast du souverän nach Hause gelaufen, ohne Wenn und Aber. Die Bedingungen waren nicht optimal und trotzdem hat es für die Bestzeit locker gereicht. 03:15 werden schon noch fallen, wenn einmal alles zusammenpaßt. Die Marke nehmen wir als Marathonzwischenzeit auf Gran Canaria :-))))) Good job!
3:15h als Zwischenzeit auf Gran Canaria – damit würden wir das Feld mit Riesenvorsprung anführen. Man muss Ziele haben! 😉
Bin jetzt erst zum Lesen gekommen, aber das Aufheben hat sich gelohnt. Starker Bericht! – Und so wird letztlich jeder Lauf zum Ergebnis, und solange am Ende eine Bestzeit steht, ist ja alles (einigermaßen) gut 🙂
Du meinst doch hoffentlich ein “Erlebnis”, Hannes ;).